Steinitz VI: Das Volkslied im Kaiserreich

Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Band I, 1954, Seite XXV f)

Finden wir bei Hoffmann von Fallersleben, Erk, Parisius und Ditfurth zahlreiche Lieder demokratischen Charakters, insbesondere auch unter den Soldatenliedern, so zeigen die nach 1871 in dem militaristisch orientierten Hohenzollern-Deutschland erschienenen
großen Sammlungen und Darstellungen des deutschen Volksliedes ein völlig anderes Bild. Aus Erk-Böhmes 1893, d. h. zehn Jahre nach L. Erks Tod, erschienenem dreibändigem Deutschen Liederhort habe ich schon ein Beispiel für die bewußte Unterdrückung anti-
militaristischer Volkslieder angeführt; zwei weitere Beispiele mögen folgen.

Das hier unter Nr. 139 behandelte Lied, für das bisher wohl fast 200 Angaben aus verschiedenen Orten bekannt sind, beginnt mit folgender Strophe:

1. Wie ist doch die Falschheit so groß in der Welt,
daß alle jungen Burschen müssen heut in das Feld.

Als zweite Strophe folgt:

2.) Nach NN (z. B. Mannheim) marschieren, lassen uns visitieren,
ob wir taugen für das Feld.

Erk-Böhme III Nr. 1365 bringt das Lied, aber mit der harmlosen zweiten Strophe als erster. In der Anmerkung bringt Böhme zwar auch die erste Strophe, fügt aber gleich hinzu: „Diese Klage der Ausgehobenen wird jetzt nicht mehr gesungen.“ Ein derartiger
Zusatz ist sonst bei Erk-Böhme ganz ungewöhnlich. Wie unten gezeigt, war er zudem falsch, da sowohl für die 80er und 90er Jahre wie auch für die Zeit bis 1914 weit über 100 Angaben über das Singen dieses Liedes – und zwar mit dem Anfang „Wie ist doch
die Falschheit“ – durch die jungen, zur Rekrutierung ziehenden Burschen vorliegen, was Böhme sicher bekannt war. Siehe genauer hierzu und zur analogen Behandlung dieses Liedes bei anderen Volksliedforschern Nr. 139.

Für das hier unter Nr. 130 behandelte Lied „O König von Preußen, du großer Potentat“ sind keine fliegenden Blätter bekannt – offenbar wagte es kein Druckereibesitzer oder ließ es kein Zensor zu, die schroffen Anklagen dieses Liedes zu drucken. Dessenungeachtet gehört unser Lied zu den in der ersten Hälfte des 19. Jhs. bekanntesten und am weitesten verbreiteten deutschen Soldatenliedern, für das mir bisher etwa 40 Fassungen vorliegen und das auch bei Hoffmann-Richter und Ditfurth erscheint.

Erk-Böhme bringt es zwar unter Nr. 1403, entschuldigt sich aber in dem anschließenden Kommentar ausdrücklich, daß von den „Klageliedern über Soldatenschicksal . . . nur als Kulturbilder, fern von demonstrativer Absicht, hier einige Proben aufgenommen“ seien (zu dem bei Erk-Böhme ganz ungewöhnlichen Weglassen der Melodie siehe unten S. 328). R. Freytag hat eine sächsische Fassung desselben Liedes nicht in sein Buch „Historische Volkslieder des sächsischen Heeres“, 1892, aufgenommen, sondern besonders in einer Zeitschrift veröffentlicht (siehe ebenda).

Von hier führt eine direkte Linie zu Hans Ziegler, Deutsche Soldaten- und Kriegslieder aus fünf Jahrhunderten, 1884, in dem alle offen oppositionellen Soldatenlieder (z. B. hier Nr. 130-147 usw.) fehlen, oder zu dem fast 40 Seiten langen Kapitel bei O. Böckel, Handbuch des deutschen Volksliedes, 1908, wo die oppositionellen Soldatenlieder einfach unterschlagen werden und das deutsche Soldatenlied nur den frisch-fröhlichen Krieg für die Fürsten zu preisen scheint.

Der Gedanke einer Sammlung sozial anklägerischer und kämpferischer Volksdichtung ist auch früher schon mehrmals aufgetaucht. Da diese Dinge in der bisherigen Volksliedforschung unbeachtet geblieben sind, sei hier etwas näher auf sie eingegangen.

Anläßlich der Herausgabe einer Anthologie „Vorwärtsl Eine Sammlung von Gedichten für‘ das arbeitende Volk“, in sechs Heften Zürich 1884 erschienen, wandte sich ein Herr Schlüter an Friedrich Engels mit der Anfrage, ob Engels Gedichte und Lieder
revolutionärer Art aus den Bauernbewegungen _des 15. und 16. Jhs., aus der englischen Chartistenbewegung und aus der 1848er Revolution in Deutschland bekannt seien. Der folgende Brief von Friedrich Engels an Schlüter (in: Karl Marx und Friedrich Engels über Kunst und Literatur. Eine Sammlung aus ihren Schriften , herausgegeben von M. Lifschitz. Berlin 1948, S.241f.; vgl. auch S. 501 (hier nach Angaben von Bruno Kaiser berichtigt) ist die Antwort auf diese Anfragen:

„Werter Herr Schlüter! Was die Gedichte angeht: Die Marseillaise des Bauernkrieges war: Ein feste Burg ist unser Gott, und so siegbewußt auch Text und Melodie dieses Liedes sind, so wenig kann und braucht man es heute in diesem Sinn zu fassen. Sonstige Lieder der Zeit finden sich in Sammlungen von Volkslíedern, „Des Knaben Wunderhorn“ usw. Da findet sich vielleicht noch einiges. Aber der Landsknecht hat schon damals unsere Volkspoesie stark in Beschlag genommen. Von ausländischen kenne ich nur das schöne altdänische Lied von Herrn Tidmann, das ich im Berliner „Sozialdemokrat 1865“ übersetzt habe. Chartistenlieder gab’s allerlei, aber jetzt nicht mehr zu haben. Eins fing an:

Britania’s sons, though slaves you be
God your creator made you free
To all he life and freedom gave
But never, never made a slave

Weiter weiß ich nichts mehr. Alles das ist verschollen, übrigens war diese Poesie auch nicht viel wert. 1848 herrschten zwei Lieder nach derselben Melodie: 1. Schleswig-Holstein. 2. Das Heckerlied.

Hecker, hoch dein Name schalle
An dem ganzen deutschen Rhein.
Dein Großmut, ja dein Auge
Flößen schon Vertrauen ein.
Hecker, der als deutscher Mann
Vor der Freiheit sterben kann.

Ich denke das genügt. Dann die Variante:

Hecker, Struve, Blenker, Zitz und Blum
Bringt die deitsche Ferschte um!

Überhaupt ist die Poesie .vergangener Revolutionen (die Marseillaise stets ausgenommen) für spätere Zeiten selten von revolutionärem Effekt, weil sie, um auf die Massen zu wirken, auch die Massenvorurteile der Zeit wiedergeben muß. Daher der religiöse Blödsinn selbst bei den Chartisten.« (London, 15.Mai 1885.) .

Engels, der im Schlußabsatz eine treffende Charakteristik der geringen Wirkungen älterer revolutionärer Lieder auf den heutigen Hörer gibt, hat aber im Vorhergehenden den Bestand der deutschen Volksdichtung an revolutionären Liedern unterschätzt („Da
findet sich vielleicht noch einiges“), wie die vorliegende Sammlung, einschließlich ihres zweiten Bandes, beweist.

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