Einleitung: Demokratische Volkslieder

Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Band I S. XIX - XLIV) - (Der große Steinitz))

Zahlreiche deutsche Volkslieder, die uns vom 15. Jahrhundert an in immer größerer Zahl bekannt werden, geben der „Stimme des Volkes“ in seiner Not und in seinem Kampf klaren Ausdruck – der Stimme der bis ins 19. Jahrhundert unter der Leibeigenschaft stöhnenden und sich wiederholt in Aufständen erhebenden Bauern; der in den Städten gegen die Patrizier ankämpfenden Handwerker und der städtischen Armut; der Stimme der im 19. Jahrhundert neu entstehenden Arbeiterklasse, die mit dem schlesischen Weberlied von 1844 zum ersten Male und sogleich in machtvoller Weise erklingt; der Stimme der aus dem werktätigen Volk hervorgegangenen und mit ihm, zum Unterschied zu den Landsknechten, verbunden gebliebenen zwangsgepreßten, verkauften und mißhandelten Soldaten.

Ohne diesen wesentlichen und umfangreichen Teil, ohne diese die Sehnsucht und aIle Interessen des werktätigen Volkes zum Ausdruck bringenden demokratischen Volkslieder können wir kein richtiges Bild von dem ganzen Reichtum des deutschen Volksliedes in seiner poetischen Schönheit und inhaltlichen Wahrheit erhalten und geben.

Das vorliegende Werk will den ersten und, ich wage zu hoffen, entscheidenden Schritt tun, diese in der deutschen Volksliedforschung bisher im wesentlichen übersehenen und unbekannten Lieder zusammenzufassen und damit der wissenschaftlichen Erforschung zugänglich zu machen, sowie gleichzeitig diese Erforschung schon zu beginnen.

Da mein eigentliches wissenschaftliches Arbeitsgebiet nicht die deutsche Volkskunde ist, halte ich es für angebracht, einiges über meinen Weg zu dieser Arbeit zu sagen. Nachdem ich mich in meiner Schülerzeit viel mit deutscher Volkskunde beschäftigt und dabei in Schlesien unter anderem etwa 200 Volkslieder aufgezeichnet hatte (ein Teil der Sammlung befindet sich im Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg i. Br.), wandte ich mich vom Beginn meiner Studienzeit an der finnisch-ugrischen Sprachwissenschaft und Völkerkunde zu. Dabei habe ich mich eingehend mit der Volksdichtung der finnisch-ugrischen Völker befasst, selbst Märchen, Lieder, Rätsel usw. aufgezeichnet und mehrere Arbeiten zur Volksdichtung der Finnen und Karelier, Esten, Ostjaken und Wogulen veröffentlicht.

1950 hatte ich die reiche sozial anklägerische Thematik der estnischen Volksdichtung untersucht, von der schon Herder, wie erwähnt, Proben anführt. Als ich mich anläßlich eines Vortrags für dieselbe Thematik in der deutschen Volksdichtung interessierte, schien es mir anfangs, dass dieses Gebiet in den deutschen Volksliedern nur ganz schwach vertreten sei.

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