Steinitz III: Volkslieder und Zensur

Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters, Band I, Einleitung S. XXIV f.)

Die vorliegende Sammlung zeigt den Reichtum an deutschen Volksliedern demokratischen Charakters. Daß dieser Reichtum aber nicht noch weit größer ist, daß viele Lieder nur selten belegt sind und manches ehemals gesungene Lied iiberhaupt fehlt, beruht darauf, daß diese Lieder dreierlei Hindernisse oder Zensuren zu passieren hatten. Viele der demokratisch-oppositionellen Lieder waren von den Behörden verboten und konnten nur heimlich gesungen werden; bekannt ist dies vom „Blutgericht“ der schlesischen Weber (Nr. 91), von der „Schönen Bernauerin“ in Bayern (Nr. 76) und vielen anderen.

Beim Soldatenlied wird uns mehrfach berichtet, daß die Offiziere das Singen von Liedern, die die Kriegsstimmung beeinträchtigten oder die Soldatenschinderei anprangerten, verboten (s. z. B. Nr. 130, 164). Verbote von oppositionellen Soldatenliedern werden sich auch in der zeitgenössischen Memoirenliteratur von 1780-1850, insbesondere aber möchte ich annehmen, in Akten der Militärgerichte dieser Zeit nachweisen lassen. Nach der Niederlage der Bauern und der städtischen Armut 1525 wurden ihre Lieder von den Siegern mit wütendem Haß verfolgt, so daß sich Reste dieser Lieder nur in Gerichts- und Folterprotokollen erhalten haben (s. S. 21 f.). Derartige verbotene Lieder wurden daher nicht jedem Volksliedsammler vorgesungen – die Sänger waren hier ihre eigenen Zensoren.

Der Volksliedersammler als Zensor

Der zweite Zensor war der Sammler. Die Mehrzahl der Sammler kam von einer romantisch-antiquarischen Einstellung aus zum Volksliedsammeln; man suchte speziell nach altertümlichen Balladen u. ä.. Dies gilt ebenso von der Volksliedsammlung in der Zeit der Romantik wie von der systematischen Nachsammlung, die besonders intensiv durchgeführt wurde, seitdem auf John Meiers Initiative 1905 der Verband deutscher Vereine für Volkskunde den Plan einer wissenschaftlichen Ausgabe der deutschen Volkslieder gefaßt hatte. Ich erinnere mich, wie ich selbst um 1920 Balladen und Legenden nachforschte, andere Lieder aber nur „mitnahm“. Die meisten Sammler waren an den demokratisch-oppositionellen Liedern gar nicht interessiert, achteten nicht auf sie, und es war nur natürlich, daß die Sänger diesen Teil ihrer Lieder vor ihnen zurückhielten. Besonders gilt das Gesagte von weitverbreiteten Arbeiterliedern wie z. B. Nr. 124 „Der Schachtmeister muß sich schämen, weil er die Leut tut quälen“ – gehört es doch zu den ganz seltenen Ausnahmen, daß ein Volksliedsammler auch für Lieder der Arbeiter Interesse zeigte. Eine dieser Ausnahmen ist der Lehrer Carl Köhler, der auf John Meiers Anregung um 1890 an der Mosel und Saar Volkslieder aufzeichnete und zusammen mit John Meier 1896 publizierte; in dieser Sammlung sind zum ersten und bisher einzigen Mal in der deutschen Volksliedliteratur drei Streiklieder (Lieder der Saarbergarbeiter aus dem großen Streik von 1889) enthalten, s. hier Nr. 113-115. Es ist kein Zufall, daß wir eine besonders große Zahl von demokratisch-oppositionellenVolksliedern eben den demokratischen Volksliedsammlern und -forschern Hoffmann von Fallersleben, L. Erk und L. Parisius verdanken.

Die Verlage als Zensoren

Die dritte hohe Zensurschranke entstand bei der Veröffentlichung der Lieder im Druck. Die offizielle staatliche Zensur tritt insbesondere bei den fliegenden Blättern vom Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jhs. in Erscheinung. In den Mitteilungen des Vereins für sächsische Volkskunde Bd. III S. 133ff. und IV S. 299 ff. (1903-1906) wird ein „Verzeichnis der im Verlage der verwitweten Solbrigin zu Leipzig herausgekommenen Volkslieder, welche anbefohlenermaßen konfisziert worden sind. Anno 1802“ veröffentlicht und kurz behandelt, in dem mehrere, in vorliegender Sammlung aufgenommene Lieder enthalten sind.(Nr. 40 und 151 in diesem, einige im II. Band). Die konfiszierten Lieder werden einerseits als „ärgerliche und den guten Sitten zuwiderlaufende“, andererseits als „auch sonst besonders dem gemeinen Volke schädliche Lieder“ bezeichnet; zu der zweiten Gruppe gehören Lieder, in denen „Sympathien für die französische Revolution und demokratische, soziale und politische Gesinnungen zum Ausdruck kommen“, wie Witkowski, leider ohne nähere Angaben, ebenda IV S. 302 bemerkt. Eine nähere Untersuchung der auf dieses Verzeichnis bezüglichen erhaltenen Akten sowie weiterer Verzeichnisse verbotener Lieder wäre dringend zu wünschen.

Die Verleger von fliegenden Blättern, im allgemeinen Druckereibesitzer, führten eine geschickte Politik, mit der sie einerseits den Wünschen und dem Geschmack des Volkes Rechnung tragen, andererseits auch mit der Zensur nicht in ernsthaften Konflikt geraten
wollten. Sehr verbreitete, aber scharf oppositionelle Volkslieder wurden von den Verlegern überhaupt nicht gedruckt (z.B. „O König von Preußen“ Nr. 130, „Ein Soldat muß leiden viel“ Nr. 136). Andere erscheinen in den fliegenden Blättern gewöhnlich um  entscheidende oppositionelle Strophen gekürzt (s. z. B. Nr. 20, 132, 133, 167, 168).

Zweifellos hat sich die Zensur in der Vormärzzeit aber nicht nur bei fliegenden Blättern ausgewirkt. Es braucht sich hierbei nicht um ausdrückliche, direkte Verbote der Zensur zu handeln. Allein das Damoklesschwert der drohenden Zensur mußte einen nicht sehr bewußten, einen nicht ausgesprochen demokratischen Publizisten von dem Versuch zurückhalten, politisch „anstößige“ Lieder in die Sammlungen aufzunehmen.

Dasselbe gilt später von der Furcht vor der offiziellen Meinung der herrschenden Junker- und Militärkaste im  Hohenzollerndeutschland, von der die hier S. XXI, XXXIV u. a. angeführten Worte und Taten Böhmes und anderer Volksliedforscher beredtes Zeugnis ablegen.

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