Vorhandene Volkslieder-Sammlungen

Arthur Hübner (in: Der Heimatforscher, Band IV, 1926)

Man sammelt bei uns in Deutschland Volkslieder seit etwa anderthalb Jahrhunderten; aber die Sammler sind von sehr verschiedenen Gesichtspunkten ausgegangen, und deshalb tragen die Sammlungen einen sehr verschiedenen Charakter. Wenn man ihre Reihe im großen überblickt, so ist von unserem Standpunkt aus von besonderem Interesse, wie sich ihr Rahmen allmählich verändert und verengert hat. Herder, an dessen Namen sich bekanntlich bei uns die Entdeckung des Volksliedes knüpft, der anscheinend auch die Bezeichnung ,,Volkslied“ prägte, nimmt das Wort „Volk“ noch in einem sehr besonderen Sinn und versteht darunter, ohne unbedingte Beschränkung auf bestimmte soziale Schichten, die reine, unvermischte, unverbildete Volkspersönlichkeit einer Nation.

Stimmen Der Völker
Stimmen Der Völker

Seine Sammlung (Unter dem Titel „Volkslieder“ in zwei Teilen 1778 und 1779 erschienen; den bekannteren Titel „Stimmen der Völker in Liedern“ trägt die Sammlung erst in der neuen, nicht mehr von Herder redigierten Fassung in den „Sämtlichen Werken“.), international und nur etwa zu einem Viertel aus deutschen Liedern bestehend, kann deshalb auch reine Kunstdichtungen aufnehmen, von Simon Dach bis zu Goethe und Matthias Claudius.

Die Romantiker gewinnen die Beschränkung auf das eigene Volk und finden das Herz und die Andacht gerade für seine unscheinbarsten und einfältigsten Kreise, und darum kommt ihre große Sammlung, „Des Knaben Wunderhorn“ von Arnim und Brentano (Erstmalig 1806—08 in drei Teilen erschienen.), unserer Vorstellung vom Volksliede sehr viel näher. Ja vielleicht darf man sagen, das Wunderhorn bestimmt die Vorstellung, die wir gemeinhin vom deutschen Volksliede haben. Aber demgegenüber muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß das Wunderhorn ein Kunstwerk und kein Quellwerk ist.

Von den mehr als 1300 Liedern, die es enthält, ist nur etwa ein halbes Hundert unverändert geblieben. Alles andere ist mehr oder minder geglättet und verbessert, gutenteils gründlich umgearbeitet, sogar ganz selbständige Dichtungen der Herausgeber werden untergeschoben, so daß man mit Fug sagen darf: an das deutsche Volkslied, wie es wirklich ist, kommt man mit Hilfe des Wunderhorns nicht heran. Eher genügt solchem Wunsch der dreibändige „Deutsche Liederhort“ von Ludwig Erk und Franz Magnus Böhme (1893—94), das Werk, zu dem der Forscher immer zuerst greifen muß, wenn es gilt, den Spuren eines Volksliedes nachzugehen.

Es ist das ein Werk, in dem wissenschaftlicher Ehrgeiz steckt; schade nur, daß dem Herausgeber Böhme das rechte wissenschaftliche Gewissen fehlte. Die letzte selbstlose Treue dem Überlieferten gegenüber vermißt man auch hier; aber hier ist ein Vorwurf, was bei den Herausgebern des Wunderhorns, die ein lesbares Haus- und Volksbuch schaffen wollten, keinen Tadel bedingt.

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