Aus dem Tagebuch des Varnhagen von Ense (1844)

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Berlin , 27. August 1844
„Zu Hause den Besuch des Generals von Rühle empfangen; persönliche Mitteilungen; politische Erörterungen; merkwürdige Urteile und Ansichten über den Schuß, es gibt Leute, die nicht an die gefundenen Kugeln glauben, andre die sich eine politische Verschwörung nicht ausreden lassen; alle Einzelheiten der Geschichte werden verschieden erzählt, alle Angaben bestritten, und auch gerichtlich soll wenig mit Zuverlässigkeit ermittelt sein; der König ist erfreut über die Teilnahme, die ihm bewiesen wird, und ist nun überzeugt, er stehe so im Schütze der Vorsehung, daß ihm niemand mehr etwas anhaben könne; Tschechs Kaltblütigkeit und Starrsinn werden ihm von manchen Leuten schon als Heldentum angerechnet, man hört im Volke Stimmen der verschiedensten Art, rohe Schadenfreude wird häufig laut.“
14. September 1844

„Dumme Geschichte in Halberstadt anhängig! Ein Angestellter bei der Eisenbahn sagte von einem schlechten Bilde des Königs mit Bedeutung: „Schade, daß er nicht getroffen ist!“  Ein schon vorgekommener Witz, für den aber dem Manne der Prozeß gemacht wird.“ —

21. September 1844: 

Im Volk hört man folgende Bänkelsänger-Verse singen:
„War wohl je ein Mensch so frech /
wie der Königsmörder Tschech /
Denn er traf bei einem Haar /
unser teures Königspaar /
Der abscheuliche Verräter /
Der verruchte Attentäter /
Der da schoß mit frechem Mut /
unsre Königin durch den Hut“

29. September 1844
Noch ein bänkelsängerisches Lied auf Tschech, offenbar nicht aus dem Volke, und nur heuchlerisch mit Frömmigkeit versetzt, um die Sache in Umlauf zu bringen. Es heißt darin:
„Ravaillac bracht´ Heinrich um /
Ankarström war gar nicht dumm /
Und Fieschi, der Verräter /
War ein großer Attentäter .
Ferner:
Auch der König tritt heraus /
sieht noch ganz verschlafen aus /
An den Wagen tut er treten /
und sein Vaterunser beten ,
dann:
Wie er Tschech´en nun erblickt /
von Gendarmen rings umstrickt /
Kriegt der König gleich Kourage /
Vorwärts rollt die Equipage“

Herr Graf von Kleist-Loß kam dazu; er war gestern beim General von Thile, wo General Leopold von Gerlach ereifert behauptete, der König dürfe den Tschech nicht begnadigen, zugleich aber die Furcht äußerte, solch Verbrechen würde sich wiederholen. Ein Geistlicher war auch zugegen und stimmte lebhaft ein. — Als Graf von Kleist ging, kam Bettine von Arnim, sehr aufgeregt, mit Papieren in der Hand; sie erzählte mancherlei, der General von Gerlach war gestern auch bei Savigny´s und eiferte gegen Begnadigung. Savigny´s wüteten ebenfalls gegen Tschech, dessen Urteil gesprochen ist in erster Instanz. Bettine möchte sich seiner annehmen….Sie denkt sich den König anders, als er ist. Begnadigen wird er ihn doch wohl ohne Zweifel. — Im Volke hört man doch viele Stimmen des Anteils für den Verurteilten, und seine Hinrichtung würde Schauderhaft wirken. Die Höflinge selbst würden sie hinterdrein mißbilligen.“
Während des Oktobers und Novembers keine Eintragungen über Tschech, um so mehr nach Tschechs Hinrichtung.

Sonnabend, den 14. Dezember 1844
„Heute früh las man an den Straßenecken unerwartet einen gedruckten Anschlag, die als gewöhnliche gerichtliche Warnung abgefaßte Anzeige, daß der gewesene Bürgermeister Tschech wegen seines Schusses auf den König, nachdem die Strafe des Räderns für ihn in die des Beiles gemildert worden, heute in Spandau diese Strafe erlitten habe. Die Überraschung der Leute war ungeheuer, man hatte die Sache bisher für unmöglich gehalten,  die Schnelligkeit und Heimlichkeit, mit der die Hinrichtung betrieben worden, macht den übelsten Eindruck, selbst bei solchen Leuten, die der Hinrichtung beistimmen. Allein die Mehrzahl tut letzteres keineswegs, man ist erschrocken, daß der König nicht Gnade geübt, daß er sich nicht auf gleiche Höhe mit König Louis Philippe und Königin Victoria gestellt, man findet es häßlich für ihn, häßlich für Preußen, man nennt ihn jetzt blutbefleckt, man bedauert ihn.
Zwar hört man in den Gruppen vor den Maueranschlägen um Leute, die da rufen: „Das ist recht!“, allein man hat bemerkt, daß ein und derselbe Kerl vor drei, vier Anschlägen stehen blieb, als läse er die Sache zum erstenmal, und stets mit Heftigkeit jene Äußerung wiederholte, um blickten sich die Leute scheu um, sie witterten Polizei. Was zu dieser und zum Hofe gehört, affektiert die größte Befriedigung . . . Die Leute fragen, wie muß dem Könige zu Mute sein? wie der Königin? diesen frommen, diesen christlichen Personen! Die ausgepeitschten Weber in Schlesien, der hingerichtete Tschech , das dünken schlimme Zeiten, nicht übereinstimmend mit den Aussichten, welchen man sich bei der Huldigung so gern hingab. Man erwartet mehr und mehr Schlimmes.“
15. Dezember 1844
„Mannigfache Nachrichten über Tschech ; der üble Eindruck äußert sich auf vielen Seiten. Leute aus dem Volke sagen, von dem Könige, der so fromm sein wolle, hätten sie das nicht gedacht, die fromme Königin hätte das nicht leiden sollen. — Ich sage, nun, durch die Hinrichtung habe der Schuß von Tschech den König erst recht getroffen! — Die Heimlichkeit und Beschleunigung der Hinrichtung mißfällt allgemein. — In den Gruppen, die den Maueranschlag lasen, zeigten sich zuweilen offenbar Gendarmen, und dann schwieg das Volk, aber dieses stumme Lesen und dann ebenso stumme Weggehen hatte etwas Beklemmendes. — Die Aufsicht auf die Presse ist sehr verstärkt, man untersucht die Buchhändlerpäcke die auf der Eisenbahn von Leipzig ankommen. Aber die Zahl der gegen Preußen gerichteten Schriften mehrt sich nur immer, und man kann nicht alle Wege sperren. Dabei wird es immer unmöglicher, für die Regieung zu schreiben. Die „Staatszeitung“ wird täglich leerer, erbärmlicher, die herberufenen Heuchler erweisen sich ohnmächtig.“
18. Dezember 1844
„Die Mißstimmung über die Hinrichtung Tschechs erscheint im Volke stets entschiedner und allgemeiner. Der König und die Königin haben die übelste Nachrede davon!“
20. Dezember 1844
„Ball bei *. Der Graf Hermann von Lottum setzte sich zu mir, und sprach unbefangen die stärkste Mißbilligung der Hinrichtung Tschechs aus, versicherte, daß alle Menschen sie dem Könige verdächten, eine kleine Schar von augendienerischen oder blutdürstigen Leuten ausgenommen, es sei eine allgemeine Stimmung darüber im Volke; die Sache beflecke die Regierung des Königs …“
24. Dezember 1844
„Durch das Weihnachtsfest ging eine düstere Stirnmung. Die Hinrichtung Tschechs liegt den Leuten im Sinne, sie wird allgemein mißbilligt und man blickt mit Besorgnis in die Zukunft. Man tanzt, hört Musik, sieht Schauspiele, das geht seinen Gang, aber die Unruhe und Unzufriedenheit geht mit, sie läßt sich nicht wegleugnen.“
27. Dezember 1844
„Heute Herr von Gemmingen, später Humboldt, der …Abschied nehmen wollte. Er spricht mit empörter Traurigkeit über Tschechs Hinrichtung, rühmt den Brief Bettinens an den König, Bettinens Gesinnung und Tätigkeit.“
31. Dezember 1844
„…daß Tschech nun als Held gestorben, wird ihm vom Volke hoch angerechnet; auch, daß man nun offen gestehen muß, er habe keine Reue bezeigt, seine Tat bis zuletzt für recht erklärt, macht keinen guten Eindruck, die Begnadigung hätte ihn vernichtet, die Hinrichtung gibt ihm Leben und Bedeutung. In allen Lustbarkeiten dieser Weihnachts- und Neujahrszeit gehen die Geschichten von Tschech als dunkle Gespenster mit auf Bälle, zu Gelagen, ins Theater; man hält sie für beseitigt, man will sie vergessen, und unerwartet stehen sie wieder vor Augen.“
29. März 1845
„Zwar in sehr leisem Vertrauen, aber mit großer Bestimmtheit wird versichert, Tschech habe bei seiner Untat weit weniger aus persönlichen als aus allgemeinen Antrieben gehandelt, er sei zwar durch sein persönliches Mißgeschick erbittert, aber durch die überhaupt getäuschten Hoffnungen zumeist bewogen worden, er habe den König beschuldigt, schlecht zu regieren, der gegebenen Zusagen zu vergessen, dem Volke die Konstitution vorzuenthalten und so weiter. — Dies soll allerdings streng verheimlicht werden; allein wer kann heutigen Tages schweigen?“
siehe Bürgermeister Tschech

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