Steinitz V: Die Volksliedforschung

Wolfgang Steinitz (in: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Band I, 1954, Seite XXV f)

Wenn auch, wie gesagt, die deutsche Volksliedforschung den anklägerischen und kämpferischen, den ausgesprochen demokratischen Teil des Volksliedes bis in die letzte Zeit im wesentlichen vergessen hat, so zeigte doch die Beschäftigung mit dem Volkslied bis in die 1848er Zeit einen ausgesprochen demokratischen, mit den Lebensinteressen des deutschen Volkes eng verbundenen Charakter. An diese hervorragende demokratische große Tradition gilt es anzuknüpfen.

Herder am Anfang

Am Anfang der literarischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Volkslied in Deutschland steht Herder, der bewußteste und klarste Vertreter der demokratischen und nationalen Interessen des jungen deutschen Bürgertums am Ende des 18.Jhs. Alle fortschrittlichen Gedanken des deutschen Bürgertums und seiner Dichter und Denker, die unter der Zerrissenheit und dem Joch des in Deutschland besonders grotesk entwickelten Feudalabsolutismus litten, mußten auf eine enge Verbindung mit dem werktätigen Volk – damals im wesentlichen Bauern und Handwerker – gerichtet sein. So sehen wir den Zug zum Volke und zur Volksdichtung in den 1770 er Jahren nicht nur bei Herder und dem von ihm angeregten jungen Goethe, sondern auch unabhängig von ihnen bei G. A. Bürger, Chr. Fr. D. Schubart und anderen.

In dem Jahrzehnt 1805 -1815 wird die nationale Frage, die Frage der Unabhängigkeit und des Kampfes gegen den fremdlândischen Eroberer, zur aktuellsten Frage der besten Männer Deutschlands, die freilich für sie untrennbar mit der Erreichung der deutschen Einheit und der Demokratisierung Deutschlands verbunden war. Der Erweckung des durch die feudale Zerrissenheit und die völlige Rechtlosigkeit des Volkes verschütteten Nationalbewußtseins diente auch die Beschäftigung mit dem deutschen Volkslied.

Des Knaben Wunderhorn

„Des Knaben Wunderhorn“, von den Romantikern Arnim und Brentano 1806-1808 herausgegeben, erschien gerade in den Jahren der tiefsten nationalen Demütigung Deutschlands durch Napoleon. Indem das „Wunderhorn“ weit umfassender als Herder in seinen „Stimmen der Völker in Liedern“ – die ja Lieder aller Völker enthielten – den nationalen Schatz an deutschen Volksliedern dem deutschen Volke vorlegte, erfüllte es eine große nationale Aufgabe.

Diese Rolle des „Wunderhorns“ wird durch eine Äußerung des Freiherrn vom Stein treffend beleuchtet, die sein Mitarbeiter an den Monumenta Germaniae historica, der Historiker Joh. Friedr. Böhmer, überliefert hat:

„In unseren gangbaren Literaturgeschichten wird der so reiche „Heidelberger Kreis“, wozu Görres, Clemens Brentano, Achim von Arnim usw. gehörten, ganz stiefmütterlich behandelt, und doch war damals dort die eigentliche „Tafelrunde der deutschen Patrioten“. In Heidelberg, sagte mir einmal Freiherr vom Stein, habe sich ein guter Teil des deutschen Feuers entzündet, welches später die Franzosen verzehrte.“ (Joh. Janssen, Joh. Friedrich Böhmers Leben. Freiburg i. Br. 1868, S. 438.)

Die offen reaktionären Züge der deutschen romantischen Schule: die unhistorische Lehre vom Volksgeist als einer immanenten, unveränderlichen Eigenschaft; die Auffassung des Volkes als eines einheitlichen Ganzen unter völliger Übersehung der tiefen  Klassengegensätze – herrschte doch damals in vielen deutschen Staaten die Leibeigenschaft; ihre Idealisierung des feudalen Mittelalters. des Katholizismus und Mystizismus; ihr Rückwârtsgewandtsein und ihre Stellung gegen die Französische Revolution ~
all das darf uns nicht davon abhalten. die sehr positive Rolle und Bedeutung der Romantiker in bezug auf die Stärkung des Nationalbewußtseins, die Veröffentlichung der Schätze der deutschen Volksdichtung und ihre Hochachtung vor der schöpferischen Kraft des einfachen Volkes in der Volksdichtung zu sehen.

Goethe, der 1806 eine begeisterte und ausführliche Rezension des „Wunderhorns“ veröffentlichte, verbindet in seiner Person das Volksliedinteresse der 1770er Jahre, der .,Herderzeit“, mit dem neuerwachten Interesse der Romantiker.

„Bereits ein halbes Jahrhundert hindurch bechäftigt man sich in Deutschland ernstlich und gemütlich damit [mit den „verschiedenen Volksdichtungen“], und ich leugne nicht, daß ich unter diejenigen gehöre, die ein auf diese Vorliebe gegründetes Studium unablässig selbst fortsetzten, auf alle Weise zu verbreiten und zu fördern suchten“, schreibt Goethe 1825 in seiner Studie „Serbische Lieder“.

Die Freiheitskriege hatten die ausländischen Unterdrücker vertrieben, aber die nationale Einigung und die Demokratisierung Deutschlands nicht erreicht. Mit den Jahren nach 1815 beginnt die eigentliche wissenschaftliche Erforschung des deutschen VolksIiedes – ebenso wie der deutschen Märchen und Sagen, der deutschen Mythologie und der deutschen Sprache. Auf allen diesen Gebieten standen drei Männer an der Spitze der Forschung, die nicht nur durch ihre demokratische und nationale Gesinnung, sondern auch durch die Kühnheit und Entschiedenheit, mit der sie sie in jenen Jahren finsterer Reaktion und Verfolgung vertraten, unsere Bewunderung verdienen: Jakob Grimm, Ludwig Uhland und Hoffmann von Fallersleben.

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