Vorwort: Kasseler Kinderliedchen

Eskuche und Lewalter (in: Kasseler Kinderliedchen)

Wohl dem Manne, dem durch das Getriebe der Welt noch der lieben Mutter Wiegenlied aus der Kindheit herüberklingt, dem ihre liebe Stimme, auch wenn sie längst verstummt ist, in stillen Stunden noch so traut und treu ertönt wie einst, da sie ihm nach dem Abendgebete zuflüsterte: Schlaf wohl, mein Kind! O Jugendzeit, du goldene Zeit! Wem zieht nicht Fried‘ und Freude in’s Herz ein mit der Erinnrung, wie sie eben der Sang unsres hessischen Dichters D. Saul geweckt hat?

Wen beseligt nicht der Gedanke, daß in der letzten Stunde dereinst der linde, der süße Klang uns über allen Schmerz und Unruhe hinweg in den reinen Frieden der Kindheit zurückführt, daß uns das Herz dann wieder frei und rein und still wird wie dem Kinde, dem der Herr das Himmelreich verheißt? Du selige Jugendzeit, da Spiel und Reigen unsre Lust, unsre Welt war, wohl ist die Erinnrung an dich schön, aber du selbst bist tausendmal schöner! Und doch — du bist entschwunden und sollst entschwunden bleiben; in unsrer arbeit- und kämpf-und lebensfrohen Zeit suchen wir nicht rückwärts schauend das Land des Wunsches: Das liegt vor uns, in uns.

Nur manchmal flieht der Geist aus der Unruhe der Gegenwart und der Ungewißheit der Zukunft zurück in das stillumfriedete Land der Jugend. Wir lauschen dem Halbsinn — Halbunsinn , der uns selbst einst so beglückte, wir gedenken der Spiele, die einst unsre Gedanken bei Tag und unsre Träume bei Nacht erfüllten, und lächelnd dringen wir durch uns selbst immer tiefer in die heimische Eigenart der Kinderwelt: vorahnend sehen wir dann in den tanzenden, singenden Kindern auf der Straße dieselben, die auch dereinst im ernsten Spiele des Lebens kräftig und lustig mitschreiten.

So wächst mit dem Verständniß für heimische Art und Sitte auch die Liebe zum eigenen Volksstamme, ja zum ganzen Volke. Wer kennt nicht das herrliche Brüderpaar mit der Denkerstirn und dem Kinderauge, die Grimms? Die verstanden und liebten ihre hessische Heimat, drum wurden und werden sie von ganz Deutschland verstanden und geliebt. Denn wie eine gesunde Liebe zur ganzen Menschheit — nicht jene millionenumschlingende des vaterlandslosen Weltbürgers — sich auf die Liebe zum eigenen Volke gründen muß, so wächst auch der Edelbaum der Vaterlandsliebe schön und voll empor nur aus der starken Wurzel der Heimatliebe, der Liebe zu der Landschaft, der Stadt oder dem Dörfchen, wo du deine Kindheit verlebt hast. —

Aber was sollen dazu die dummen Kinderreime? Ja, unser Geschlecht ist ein gar klug und verständig Geschlecht: Mancher ist vielleicht nie richtig jung gewesen, Mancher schämt sich wohl gar jener kindlichen Spiele, und viele haben nicht Zeit und Sinn dazu, sich mit Kinderreimen und Kindereien“ abzugeben. Das ist nun schade, denn wir möchten nicht nur gedruckt, sondern auch gelesen sein. Aber werden diese bescheidenen Blätter nur in etliche Häuser unsrer lieben Vaterstadt treulich aufgenommen, dann tröstet uns vollauf die Freude an der Sammelarbeit, und das Bewußtsein, dem grünenden Baume der Volksliebe eine kleine, doch erfrischende Quelle zugeführt zu haben, es tröstet uns auch die Erinnrung an das alte Mütterchen, dem wir zum Danke für einige Spielreime, die es aus dem Schubfach verstaubter Jugenderinnrung hervorkramte, das Liedchen vorlasen: „Traurig traurig, immer traurig! Hab verloren meinen Schatz“ : — die matten Augen leuchteten ihm auf, und lächelnd summte es: „Ja, ja das ist mein Schatz, der mich so betrogen hat.“ —

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