Geschichtliche Entwicklung der Heimathymnen

Gertrud Stendal (in: Die Heimathymnen der preußischen Provinzen)

Die Bezeichnung der Lieder

In den Kommers- und Liederbüchern der letzten Jahrzehnte nimmt eine Liedergattung einen immer breiteren Raum ein, die in den früheren Sammlungen nur durch einige im weitesten Sinne zu Volksliedern gewordene Vertreter angedeutet war. Es sind dies Lieder, die dem Preise eines enger begrenzten Gebietes, sei es einer Provinz oder einer Landschaft, gewidmet sind, die in dem betreffenden Gebiete eine gewisse Volkstümlichkeit erlangt haben und als  Ausdruck der Zugehörigkeit zu diesem Gebiete gesungen werden. Eine allgemein umfassende Bezeichnung für diese Liedergattung ist noch nicht geschaffen. Das Nächstliegende wäre, sie als Provinzial- oder Landschaftslieder zu bezeichnen, doch möchte ich diese Benennung ablehnen, weil es mir nicht ratsam erscheint, eine prinzipielle Scheidung zwischen denjenigen Liedern, die sich auf Provinzen und denjenigen, die sich auf Landschaften beziehen, durchzuführen, da ursprünglich nicht die äußere Begrenzung, sondern der Stammescharakter eines Gebietes für die Entstehung der Lieder das Ausschlaggebende war. Die frühesten und volkstümlichsten dieser Ich habe im folgenden die zusammenfassende Bezeichnung „Heimathymnen“ angewendet, da die Lieder als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem enger begrenzten Gebiete des deutschen Vaterlandes besungen werden, und es daher nahe liegt, sie zu den Nationalhymnen der deutschen Staaten in Parallele zu setzen.
Lieder finden sich nämlich da, wo der Charakter eines Volksstammes sich rein bewahrt hat, und wirklich volkstümliche Provinziallieder entstehen ursprünglich nur dort, wo der Name der Provinz zugleich einen in seiner
Eigenart ausgeprägten Volksstamm bezeichnet, wie in Westfalen und Pommern.

Die Stellung der Heimathymnen in der Literatur

Mit den Nationalhymnen haben die Heimathymnen die in ihrem Wesen liegende vaterländische Tendenz so- wie die beiden charakteristischen Eigentümlichkeiten gemein, die ihnen im Gebiete der Heimatlyrik ihre Sonderstellung anweisen: ihre Sangbarkeit und ihre Volkstümlichkeit. Wie die Nationalhymnen sind sie also als Unterabteilung in der großen Gruppe der Vaterlandslieder aufzufassen. Trotzdem wäre es verfehlt, sie als völlig gleichberechtigt an die Nationalhymnen der deutschen Staaten anzugliedern. Der einschneidendste Unterschied ist der, daß für die Nationalhymnen die politische Begrenzung das Ausschlaggebende ist, wahrend für die Heimathymnen, wie oben erwähnt, diese äußere Begrenzung erst sekundär eine Rolle spielt, dafür aber die Eigenart der betreffenden Gegend in Landschaft, Stammeseigentümlichkeiteit usw. stark in den Vordergrund tritt, und daß auch subjektive Gefühle des Verfassers in gewissen, immer wiederkehrenden Motiven zur Geltung kommen.

Die Bedingtheit der Heimathymnen durch die Zeitströmungen

ihrer Entstehungszeit nach fallen die frühesten Heimathymnen in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Schon früher sind allerdings einige Rheinlieder ähnlichen Charakters zu verzeichnen, doch haben die Rheinlieder überhaupt, wie später gezeigt werden wird, besondere Entstellungsbedingungen, und ich möchte daher die Rheinlieder der dreißiger Jahre nur als Vorläufer der eigentlichen Heimathymnen bezeichnen.

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