Volksdichtung an Militärzügen (Einleitung)
Germanistische Kriegspropaganda
Karl Wehrhan (in: Gloria, Viktoria! Volksdichtung an Militärzügen ; 200 Wagenaufschriften (1915))
Wer die Augusttage des Kriegsjahres 1914 miterlebt hat, wird sie nie vergessen, und wem es nicht vergönnt war, selbst mit in dem Strom der Begeisterung zu schwimmen, dem kann ihre packende Wucht auch nicht geschildert werden, er vermag nur eine Ahnung von dem zu erhalten, was wogte und toste, brauste und sauste, wellte und schäumte aus den tiefsten Tiefen deutschen Herzens heraus. Wohl wusste jeder, dass es ernste Zeiten, harte Kämpfe, gewaltige Anstrengungen geben würde, aber trotzdem entrang sich der Brust kein Zweifel, kein Seufzer, es ging im Gegenteil ein Gefühl der Befriedigung, der Erleichterung, der Erlösung durch die dichten Reihen des Volkes in den Straßen, als es endlich hieß: Krieg.
Der Sturm der Begeisterung riss alles mit sich fort, vor allem beseelte sie auch unsere, in das Feld ziehenden jungen Krieger, die überall mit nicht enden wollendem Jubel begrüßt wurden. Taschentücher winkten, Rufe erschollen, Gesang ertönte, wo sich in schier endlosen Wagenreihen ein Militärzug hinter dem andern nach Osten und Westen bewegte, zusammengestellt aus den laub-, blumen- und fahnengeschmückten Wagen, in denen unsere braven Feldgrauen mit lachendem Gesicht am Fenster standen oder in offenem Viehwagen malerisch im Stroh lagen, so froh, als ob es zum fröhlich hochzeitlichen Reigen gehe. Wer das sah, dessen Herz schlug höher, und darum wurden die Grüße der jubelnden Menge nur stürmischer und froher.
So konnte nur ein Volk der Sieger, ein waffengewöhntes, waffengeübtes Geschlecht, das ungebrochen ist an Kraft, das gestählt ist durch eiserne Selbstzucht und Mannszucht, in den schrecklichsten Kampf, den die Weltgeschichte kennt, gehen. Aber nicht nur durch den Blumen- und Wimpelschmuck kam Farbe und Leben in die Einförmigkeit des kriegerischen Bildes der Militärzüge, einen besonders fröhlichen und hellen Ton mischten die leuchtenden Kreideinschriften und Zeichnungen hinein.
In ihnen sprach der Geist der Stunde, weshalb sie in ihrer Art eine nicht zu unterschätzende, geschichtliche Bedeutung haben. Die Inschriften bewegten sich fast ausschließlich in heiterer Tonart, aber gerade das ist bezeichnend. Ein solch strahlender Frohsinn unserer ins Feld ziehenden Krieger, eine solch frohgemute Laune, kann sich nur bei Männern finden, die mit voller Überzeugung von der Gerechtigkeit der guten Sache, mit echtem wahren Gottvertrauen in den Befreiungskampf hinaus ziehen. Wahrhaft überraschende Züge zeigte da der deutsche Soldatenwitz in den verschiedensten Inschriften, unter denen einige geradezu Perlen echt heiterer Laune genannt werden können.
Wohl waren sich auch unsere Krieger des ganzen großen Ernstes der Zeit bewußt, aber die packende Wut, die heftige Bitterkeit, der aufbrausende Zorn gegen die zahlreichen Feinde, schien sich in besänftigender, heiterer Gemütsart aufgelöst zu haben. Und das war gut so.
Wie herzbefreiend ist es in manchen Augenblicken, in denen das Wasser zu den Augen aufsteigen, das Wort in der Kehle ersticken will, wenn jemand plötzlich einen gemütlichen, deutschen Witz macht, der die ganze Lage auf einmal in anderm Lichte erscheinen lässt. So ist es auch mit diesen oft derben Äußerungen unserer Soldatenheiterkeit, sie haben in jenen schweren Tagen der Truppenbewegungen manchem bedrückten Gemüt das Tor zum fröhlichen Lachen, zur heiteren Miene wieder geöffnet, sie haben frohe, zuversichtliche Stimmung geschaffen, und solche Stimmung ist halber Sieg.
Nur in ganz kurzen Worten soll hier auf einzelne Züge, die in den Aufschriften zum Vorschein kamen, hingewiesen werden, für Deutschland und Deutschtum, insbesondere für den höchsten Führer der Deutschen, für unsern Kaiser spricht sich echteste Treue, größte Verehrung, kindliche Anhänglichkeit aus. Jeder Vers zeigt, wie sehr man auf die Feinde erpicht ist, wie man an sie heran will, um deutsch mit ihnen zu reden. In allen Aufschriften kommt zuversichtlicher Mut, unerschütterliches Vertrauen, unbedingte Siegeszuversicht, entflammter Mannesmut, kriegerisches Draufloswollen, kernige Urwüchsigkeit, ursprüngliche Kraft, großer Glaube an die gerechte Sache, starke Hoffnung auf die Zukunft Deutschlands zum Ausdruck.
Die Inschriften an den Militärzügen, geboren in einer Zeit, in der es um das Heiligste, Teuerste, um Heim und Vaterland, um Frau und Kind, ja um das eigene Leben ging, sie zeigen uns, wie das echte, deutsche Herz, neben dem ungestümen Wagemut auch vertrauensvollen Zukunftsglauben und darum zugleich gesunden treffenden und kernigen Witz hat. Und überall, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, zeigt sich die selbe Erscheinung, dieselbe Sinnesart, selbst unsere Brüder in Österreich bleiben nicht hinter uns zurück, wie verschiedene, schöne Inschriften beweisen.
Die Inschriften, um auch etwas über die Form zu sagen, die meistens den Reim bevorzugt, haben viele Ähnlichkeit mit Volksliedern und Spielreimen unserer Kinder. Einmal schon in der Veranlassung des Dichtens. Wie die Kinder in den Ergebnissen ihrer Reimlust zur poetischen Gestaltung bringen, was sie jeweilig begeistert bewegt und anregt, und sie von ihrem alltäglichen Tun außer dem Spiel ablenkt, so auch die erwachsenen Angehörigen des Volkes. Diese befassen sich reimbildend mehr mit den öffentlichen Angelegenheiten, als man gemeiniglich anzunehmen scheint. Weil das Ergebnis Eintagspoesie, ist die mit den veranlassenden Ereignissen bald wieder verschwindet und_anderen Reimen Platz macht, achtet man sonst wenig darauf.
Je mehr ein öffentlicher Vorgang die Volksseele in ihrem tiefsten Innern packt, um so nachhaltiger ist die Anregung zum Reimen. Größer und stärker aber konnte wohl kaum ein äußerer Anreiz sein, als die welterschütternden Ereignisse der Juli und Augusttage, in denen das deutsche Volk einem unglaublichen Kesseltreiben ausgesetzt wurde, wo auch die breite Masse unseres selbst politisch noch sittlich fein und rein fühlenden Volkes, sich über die ruchlose Gemeinheit, die hinterlistige Treulosigkeit, die schnöde Habgier und den grenzenlosen Neid unserer Feinde entsetzte.
Da war das Volk in seinem innersten Kern ergriffen, es richtete sein ganzes Fühlen und Denken nur auf den Krieg, gab seinem Wollen nur ein einziges großes Ziel. Und in dieser inneren Spannung entstanden gereimte Äußerungen des Volkes in großer Zahl, die treffender als alle Untersuchungen den psychologischen Zustand des einzelnen, der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und des ganzen Volkes kennzeichnen.
Die zum Teil alten Reime mit ihrem neuen Inhalt zeigen uns ferner, wie selbst das in seiner Form am festesten erscheinende, überlieferte, uralte Volksgut, bei geeignetem, und das Innere in genügender Stärke ergreifendem Anlass, nicht starr genug ist, um einer solchen Einwirkung und Veränderung zu entgehen. Da im allgemeinen, wenn es sich eben machen lässt, der Reim bevorzugt wird, so ist das Suchen nach Reimworten recht lehrreich. Die Reime waren hier nun nicht immer leicht.
Einige waren bald gefunden: Russ Schuss — Brit Tritt — Franzos Stoß — Franzosen Hosen — Serben erben. Damit hören die verbreitetsten Bildungen aber auch schon auf. Schon musste man, mit übrigens nicht schlecht gewähltem humorvollem Klang: „Sterbien Serbien“ reimen, man fand „Japs auf Klaps“, um wenigstens die Japaner nicht ganz zu vernachlässigen und „Portugies auf Spieß“ Dass „Geländer zu Engländer“ gesetzt wurde, zeigt schon, wie man suchen musste: auf Monaco, Montenegro, Belgien und Belgier gelang es nicht einen Reim zu finden. Aber wo dieser auch mangelhaft ist, wo er sich nur auf die Gleichheit des Vokales beschränkt, erfreut und erheitert er auf jeden Fall, selbst wenn er mit der Logik in Widerspruch gerät und gar Unsinn ergibt. Weil manche dieser Aufschriften im Reim und in anderer Weise sich an bestimmte Vorbilder anlehnen, muten sie uns so vertraut an.
Die Vorliebe des Volkes für Doppelbegriffe und Wortspiele tritt in Erscheinung in den zahlreichen Ausdrücken für Schießbedarf, wenn dieser in seinen verschiedenen Arten u. a. folgende Bezeichnungen erhält: „Umzugsgut nach Frankreich oder Rußland“, „Wichse“, „Gift“, „Vernichtungsstreu“ oder „Juckpulver“, „Pillen“, „blaue Bohnen“, „Hülsenfrüchte“, „Zuckerhüte“ usw. Die Inschriften sind manchmal unterbrochen oder verdeutlicht durch nicht wenig künstlerische Fertigkeit verratende Zeichnungen, einen Kosaken zu Pferde, einen Franzosen in geknickter Stellung eins der feindlichen Regierungshäupter darstellend.
Wie solche Aufschriften zustande kommen, dafür nach einem Zeitungsberichte nur ein Beispiel aus Hamburg, wo ein echter Hamburger Junge durch seinen urwüchsigen Witz die Kameraden so begeistert hatte, dass diese ihn alle in ihren Wagen ziehen wollten. Als eine Gruppe endlich gesiegt und ihn in ihrer Mitte hatte, riss er sich einen Augenblick los: „Platz dor ick, mutt ers mol mien’n Wogen dekorier’n!“ Und indem er mit einem Stück Kreide ungelenke Buchstaben malte, sagte er: „Man sall doch gliek sehn, dat hier’n Hamborger Jung in’n Wogen is!“
„Bravo!“, „Famos!“ Allseitige Anerkennungsrufe und Gelächter, als am Wagen zu lesen war:
„Den’n Engelschmann un den’n Franzos
De haut wi bats to Applmoos!“
„Von Applmoos könt wi aber nich leb’n“, ruft ein Witzbold aus der Menge: „Nee`? Täuf mol’n Ogenblick, jetz gifft Middag“:
„De Belgier dat Räuberpak
Snied wi kort und kleen to Bieftickhack“
„Immer dütsch blieb’n: So un „Bieft“ dreemol ünnerstriek’n!“ Abermals nicht enden wollendes Gelächter und Spenden von Zigarren, Zigaretten und Paketen an den derbdichterischen Landwehrmann. „Un wenn dat all is“, fragt wieder der selbe Witzbold von vorhin. „Denn gifft Konserven, du Fretsack dor achter!“
„De Russen un de Serben
De haut wi to Konserven!“
„So, du, nu heft n ganzen Kökenzettel!“ Da lachte jeder, der Zeuge dieser Szene war, dass er beinahe den Ernst vergaß, und wieder packten ein paar Fäuste zu und wollten ihn in den Wagen zerren und unter „Hoch und Hurra!“ gelang es auch, acht bis zehn Kameraden. Bis der Zug abfuhr, hatte er auch schnell noch ein Lied gedichtet, und bald erklang das neue Lied, das wohl auch schon stadtbekannt sein wird.
Da der Russe mich nicht gern hat
Franzos und Engelsmann mich auf n Kern hat
Ist es mir egal, wie wo und wann
Wenn ich die dreie nur vermöbeln kann
Das ging von Wagen zu Wagen und wurde immer und immer wieder gesungen.
Noch einmal sagte er zu uns aus dem Wagen heraus, indem er uns allen herzhaft die Hand drückte: „Also wedder kom’n do ick, de Kugeln fang ich mit de Hanns op!“ Wieder Gelächter und herzliches Zurufen, dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Noch sehen wir seine breite massige Gestalt, sein so gutmütig fröhliches Gesicht und hören seine letzten Worte: „Kinners, bloß nich denn Humor verleer’n!“, dann blickte er mich noch einmal an: „Fritz, vor Paris seht wi uns wedder.“
in: Gloria, Viktoria! Volksdichtung an Militärzügen ; 200 Wagenaufschriften (Karl Wehrhan, 1915, Einleitung)
Volksmusik: Volksliedbücher, Zeitgeschehen
Liederzeit: 1914-1918 Erster Weltkrieg
Siehe dazu auch:
- Allgemeines Schweizer Liederbuch (Vorwort, 1828) ()
- Allgemeines Schweizer Liederbuch (Vorwort, 1833) ()
- Als der Großvater die Großmutter nahm (Auflage 1922) ()
- Die Bedeutung des Liedes für die Auswanderung ()
- Einleitung: Demokratische Volkslieder ()
- Geschichtliche Entwicklung der Heimathymnen ()
- Kinderlieder ()
- Ministerium stoppt Bundeswehr-Liederbuch ()
- Mitteilung über das niederdeutsche Volkslied „Burlala“ (=Peterlein) ()
- Neue Soldaten- und Marschlieder (1916) ()
- Schlesische Volkslieder (1842): Vorwort ()
- Schlesische Volkslieder: Vorwort von Ernst Richter ()