Ein Besuch in Barackia

Berliner Lebensbild

Max Ring (in: Die Gartenlaube, Heft 28, 1872)

„Hast Du schon die Berliner Republik Barackia besucht?“ fragte mich eines Tags mein humoristischer Freund.

„Welche Republik?“ erwiderte ich verwundert. „Soll das einer Deiner schlechten Witze sein?“

„Keineswegs! Es handelt sich in der Tat um einen neuen Freistaat im eigentlichen Sinne des Wortes, in seiner verwegensten Bedeutung, um einen Staat in freier Luft, auf freiem Felde, mit der freiesten Aussicht und den freisinnigsten Institutionen, frei von allen Schikanen der Polizei, frei von Executoren und tyrannischen Hauswirten, ohne Mietsabgaben und Steuern, ohne verpestete Rinnsteine und anrüchige Senkgruben, frei von allen Lasten und Qualen der Weltstadt. Du kannst Dich davon mit eigenen Augen überzeugen, wenn Du mit mir einen Spaziergang nach dem Kottbuser Damm machen willst. Dort findest Du wirklich paradiesische Zustände, von denen sich die kühnste Phantasie nichts träumen läßt, die einzig wahrhaft freien Menschen, welche unsere berühmte Metropole aufzuweisen hat.“

„Du redest doch nicht von jenen unglücklichen Leuten, die wegen der herrschenden Wohnungsnot kein Unterkommen finden konnten? Ich glaube, dass die Armen eher ein Gegenstand des Mitleids als des Spottes wären.“

„Unglücklich!“ rief mein Freund fast empört. „Sie sind so wenig unglücklich, wie der amerikanische Hinterwäldler, der gewiß sein zwar rohes, aber bequemes und gesundes Blockhaus nicht mit unseren elenden Mietskasernen vertauschen möchte. Diese Armen leben in ihren Baracken jetzt jedenfalls besser und glücklicher als früher in ihren jammervollen Dachkammern und feuchten Kellerlöchern, wo sie noch dazu befürchten mußten jeden Augenblick gesteigert oder exmittirt zu werden, wo sich ihr Kindersegen zum Fluch für sie verwandelt, wo sie unter den traurigsten Verhältnissen den Kampf um das Dasein bestehen.“

„Aber es bleibt doch immer eine Schmach für unsere Welt- und Kaiserstadt!“

„Im Gegenteil! Mich freut es, daß bei dieser Gelegenheit die Welt- und Kaiserstadt sich in ihrer ganzen Glorie zeigt. Wir haben mit Hülfe unserer deutschen Brüder einen weltgeschichtlichen Krieg siegreich geführt, Elsaß und Lothringen zurück erobert, fünf Milliarden von Frankreich gewonnen. Das Geld liegt auf der Straße, und die Börse weiß nicht, was sie damit anfangen soll. Täglich entstehen neue Bankvereine und es wimmelt von Gründern. Villen, Häuser, Paläste, ganze Straßen wachsen wie die Pilze aus der Erde. Der Bodenschwindel hat den höchsten Grad erreicht. Die Stadt besitzt ein Rathaus, das Millionen kostet. Die Regierung schreibt Konkurrenzen für Denkmäler und monumentale Bauten aus, und unterdessen irren Tausende in Berlin ohne Wohnung, ohne Obdach umher, teils weil sie die fortwährend in Folge dieser abnormen Verhältnisse steigende Miete nicht mehr erschwingen können, teils weil die Hausbesitzer arme Leute, besonders mit zahlreicher Familie, nur ungern bei sich aufnehmen.“

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