Obwohl das Volkslied die Natur lebendig erfaßt und oft so kühn in die menschliche Welt hereinzieht, so ist es ihm doch vor Allem um die Exposition des Jnnerlichen zu tun. Die Empfindung ist von ihrem Gegenstande ganz erfüllt, heftig oder tief davon bewegt; sie springt wie ein elektrischer Funke von Satz zu Satz, von Strophe zu Strophe über, der, wo er hinschlägt, erschüttert und zündet. Die äußere Form ist daher voll scheinbarer Lücken und Sprünge, und doch besteht der schönste innere Zusammenhang. Dieser „kühne Sprung und Wurf“ ist das Charakteristische des Volksliedes; dieses „leidenschaftliche Stammeln“ ist das echte Merkmal aller wahren Lyrik.

Jener Lückenhaftigkeit der Composition entspricht hinsichtlich der metrischen Form die freie Herrschaft des Akzents über die Silbenzahl: das Volkslied zählt nur die Hebungen der Verse, läßt Senkungen fehlen oder füllt sie gar mit mehreren Silben; und der Reim ist oft nur Assonanz. Es legt so gar keinen Wert auf die äußere Form, aber allen Wert auf den inneren Ton der Empfindung. Daher tritt an diesen Liedern besonders ein musikalischer Charakter der Form hervor: Refrains, Alliterationen, innere Reime, Wiederholung desselben Satzes unmittelbar hinter einander
etc.

So gibt das Wort fast von selbst die Melodie, welche, als die Seele des Liedes, auch immer in der innigsten Harmonie mit dem Texte steht und dessen Lücken und Sprünge deckt und ausgleicht. Diese Übereinstimmung zwischen Form und Inhalt, die glückliche Mischung von individueller Wahrheit und ideeller Allgemeinheit, sowie die Anschaulichkeit, Kraft und Lebendigkeit der Darstellung erklären nicht nur die langanhaltende Dauer und die stete Fortpflanzung des Volksliedes durch alle Verderbnisse des Zeitgeschmacks hindurch, sondern auch den hohen Wert, den man immer darauf gelegt hat.

Wir haben verhältnismäßig nur noch wenige Volkslieder im Dialekt; die hochdeutsche Schriftsprache hat allmählig die landschaftlichen Mundarten zurückgedrängt. ,Wie das Volk in seinen Liedern überall durch eine edlere und höhere Gefühls- und Anschauungsweise sich aus der gemeinen Wirklichkeit zu erheben trachtet, lieber in einer weit entrückten Vergangenheit als in seinen dermaligen Zuständen verweilt, lieber mit Königen, Markgrafen und Rittern als mit seines Gleichen verkehrt; seiner wollenen Röcke und kattunenen Jacken nicht gedenkt, sondern
alles in Sammet und Seide kleidet und mit Gold und Perlen schmückt, ja sogar die alltäglichen Genüsse: Brot und Kartoffeln, Wasser und Bier in Weißbrot, Wildbret und Fische und kühlen Wein verwandelt, so sucht es auch in eben diesen Liedern sich seiner gemeinen Sprache zu entäußern; das Volk singt überall in Deutschland mit wenigen Ausnahmen hochdeutsch. (Schlesische Volkslieder von Hoffmann v. Fallersleben und Richter)

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