Vorwort: Der Liederfreund (1949)

Dr. Walther Pollatschek (in: Vorwort Der Liederfreund - neue verbesserte Ausgabe 1949)

Zur neuen Liedersammlung

Vor einem halben Jahrhundert fand sich eine kleine Schar junger Deutscher zusammen, die nicht die ausgetretenen Pfade der „Alten“ gehen wollten. Ihr eigenes Leben wollten sie, ein Leben der Wahrheit und Echtheit. Ohne viel Auf-liebens davon zu machen, zogen sie sich aus dem Zwang und der Lüge der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit zurück und suchten im Wandern und in der schlichten Gemeinschaft ihrer Gruppe ihren Weg. Es ist seltsam, daß man bei den Alten unserer Zeit fast immer diejenigen erkennen kann, die einmal dieser Frühzeit der deutschen Jugendbewegung angehörten.

Das Erlebnis von damals ist so tief in sie eingedrungen, daß all das Umstürzende der Jahrzehnte es nicht verschütten konnte. Und ihnen allen ist die Liebe zum Volksliede geblieben, das die Wandervogeljugend in jener vergessenen Zeit recht eigentlich wieder entdeckt hat. Denn mit dem Volksliede stiegen die jungen Menschen zu den Quellen echten, schlichten, ewigen, wahren Empfindens hinan. Es konnte so recht zum Ausdruck ihres eigenen Wesens und Suchens werden.

Die Zeit des alten Wandervogels ist vergangen und kann nicht mehr wiederkommen. Kriege liegen zwischen dem Damals und dem Heute, der Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation, all die Schrecken und Entsetzen, mit denen die heutige Jugend auf du und du steht. Schon mit dem ersten Weltkriege endete die erste Jugendbewegung, aber in gewandelter Form führte sie ihr Leben weiter. Ihre Wirkung ging in die Breite — und oft in die Flachheit. Das sehen wir deutlich an dem Liedgute, dem sich die neue Jugendbewegung zuwandte.

Während einzelne Gruppen noch tiefer hinabstiegen in die heimlichen Goldschächte des Volksliedes, wurde bei anderen — und es sind die meisten gewesen — der hübsche Klingklang und Singsang beliebt, die verlogene „Romantik“ mit Landsknechten, Seeräubern, Vaganten: anempfundene und verlogene „Stimmungen“ und „Erlebnisse“, die gerade das Gegenteil von dem waren, was der alte Wandervogel gesucht hatte: Echtheit und Wahrheit. Die Zeit nach 1933 endlich hat die Grenze zwischen Volkslied und Schlager völlig verwischt.

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