Mir auch war ein Leben aufgegangen

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Mir auch war ein Leben aufgegangen

Mir auch war ein Leben aufgegangen
Welches reich bekränzte Tage bot
An der Hoffnung jugendlichen Wangen
Blühte noch das erste, zarte Rot

Auf der Gegenwart umrauschten Wogen
Brannt ein Morgen, schön, wie Opferglut
Hohe Traumgestalten zogen
Stolz, wie Schwäne, durch die rote Flut

Leichte Stunden rannen schnell und schneller
An dem halberwachten Träumer hin
Und die Gegend lag schon hell und heller
Nur auch wüster, da vor meinem Sinn

Forschend blickt‘ ich in die weiten Räume
Aber bei dem zweifelhaften Licht
Sah ich jetzt nur meine Träume
Wahrheit selbst, die Wahrheit sah ich nicht

O der Helle, die dem guten Schwärmer
Nichts zu zeigen hat, als seine Nacht
O des Lichtes, das den Glauben ärmer
Und die Weisheit doch nicht reicher macht

Text: Christoph August Tiedge (1800, aus Tiedges „Urania“, die vollständige Fassung des Gedichtes ist deutlich länger
Musik: Fr. H. Himmel (1803)
„Als Chor-Aria wurde das Lied von Chor und Currende 1805-1848 in Weimar vor den Häusern gesungen, wobei man die 2. und 4. Strophe ausließ“ (Böhme)
in Als der Großvater die Großmutter nahm (1885 , gekürzt) – Volkstümliche Lieder der Deutschen (1895, Nr. 283)