Ich bin der Hexe gar zu gut
ich wollt ich wär es nicht
seh ich sie nur, so steigt das Blut
mir alles ins Gesicht
Weiß leider nicht recht, wie mir ist
oft denk ich so bei mir
hättst du nur einmal sie geküsst
wie wohl, woie wohl wär dir

Tagtäglich liegt sie mir im Sinn
und abends wenn ich kaum
halb dämmernd eingeschlummert bin
so neckt sie mich im Traum
Was war ich sonst ein Lerl — und nun
ich bin fast wie verrückt
denn all ihr Wesen all ihr Tun
hat ganz mein Herz bestrickt

Seh ich sie da im Tanz so flink
wird mir ums Heru so warm
dann denk ich zitternd: Michel, spring!
jetzt spring ihr in den Arm
Und dann hab ich das Herz doch nicht
und steh und gaff sie an
was doch ein lumpig schön Gesicht
für Wirrwarr machen kann

Spaßt dieser oder der mit ihr
beim Abendzeitvertreib
O weh! So ist´s als führe mir
ein Messer durch den Leib
Ich suche sie und find ich sie
so beug ich plötzlich aus
und schleiche, menschenscheu als wie
ein Bösewicht, nach Haus

Zur Schenke geh ich ebenso
verdrießlich und so faul
als wie zum Dienst; ist alles froh
hängt Michel doch das Maul
Wenn alles laut juchheit und lacht
so sitz ich stumm und dumm
und wie aus einem Traum erwacht
seh ich mich schüchtern um

Ich habe tag und Nacht nicht Ruh
mein Aug ist trüb und hohl
oft hör ich, flüstert man sich zu
was fehlt doch Micheln wohl
Was fehlt ihm? Wann man ist vergafft
ist alle Freude hin
Schafft mir das Mädchen, oder schafft
es mir aus meinem Sinn

Text: Tiedge , 1786 , Originaltitel „Michel“ zuerst im Göttinger Musenalmanach von 1786
in:  — Als der Großvater die Großmutter nahm (1885) —

Liederthema:
Liederzeit: vor 1786 : Zeitraum:
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