Der alte Vater Martin war
Mit Ehren sechs und achtzig Jahr.
Er schlich so matt, er schlich so schwer
An seinem Stab im Dorf einher;
Sein Haupt, mit weißem Haar geschmückt,
War längst dem Grabe zugebückt

Im Dorfe liebt ihn Groß und Klein;
Man lud zu jedem Fest ihn ein;
Man gab ihm stets den schönsten Kranz
Beim Hochzeit-Reihn und Ernte-Tanz;
Denn Vater Martin, sanft und gut,
Verscheuchte nie den frohen Mut.

Das Pfingst-Fest kam; die erste Nacht
Ward mit Gesang und Tanz vollbracht.
Da sammelte sich Groß und Klein,
Und sang und sprang im Monden-Schein;
Der alte Martin aber schlich
Zu seiner Freunde Gräbern sich.

Die Nacht war schön; ein Lüftchen nur
Durchzog des Kirchhofs stille Flur,
Und lispelte mit sanftem Hauch
Im taubeglänzten Rosen-Strauch,
Der, frisch gepflanzt von lieber Hand,
An eines Jünglings Grabe stand.

Der alte Martin seufzte schwer;
Er sah empor zum Sternen-Heer,
Und fiel aufs Grab, wo Anne schlief,
Voll heißer Andacht hin, und rief:
„Ach, lieber Gott! ach, führe du
Den alten Martin auch zur Ruh!

All meine Freund‘ und Nachbarn hier
Sind längst, du lieber Gott, bei dir;
Ich bin so einsam und allein,
Und möchte‘ auch gern dort oben sein!
Du lieber Gott, was soll ich doch
So spät auf deiner Erde noch?

Wohl bin ich alt und lebenssatt!
Mein Geist ist schwach, mein Herz ist matt!
Mein zitternd Haupt ist silberweiß!
Was hilft dir, Herr, der matte Greis?
Ach! nimm ihn auf, und decke du
Sein müdes Herz mit Erde zu!“

Und Martins Bitte stieg zum Ohr
Des großen Herrn der Welt empor.
Er winkt‘ Erhörung seinem Flehn,
Und hieß den Todes-Engl gehn,
Dass er bereitete sein Grab,
Und nähm‘ ihm ab den Pilger-Stab.

Der Engel wehte Trost und Ruh
Dem frommen Vater Martin zu;
Er trat zu ihm im Licht-Gewand,
Und reicht´ ihm seine kalte Hand;
Er sprach zu Martin: „Küsse mich!“
Da küsst´ ihn Martin und verblich.

Text: Siegfried August Mahlmann (1797)
in Als der Großvater die Großmutter nahm (1885)

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