Was ist der Mensch? Halb Tier halb Engel
Klein, elend, dürftig —  herrlich groß
Was ist sein Schicksal? Tausend Mängel
und tausend Güter sind sein Los
Ihm blühen manche sanfte Freuden
auch manche, die zu früh verdirbt
ihn foltern schauervolle Leiden
er reift, wird alt, entnervt und stirbt

Ich seh der Schöpfung große Fülle
erstaun und sink bewundernd hin
seh daß ich in der schönsten Hülle
der Erde erstes Wesen bin
Schnell schafft die Fantasie mir Flügel
führt mich zu neuen Welten hin
und schnell bedeckt ein Erdenhügel
mich, der ich Staub vom Staube bin

Unendlich viel — unglaublich, wenig —
voll Schwachheit und voll Schöpfungskraft
der Meere und der Lander König
der Sklave jeder Leidenschaft!
So siegt der Mensch zur stolzen Größe
und trotzt Natur, und Zeit und Glück
und sinkt in Fesseln, darbt in Blöße
und setzt sich unters Tier zurück

Er predigt Weisheit, singt die Tugend
und drängt sich, Weihrauch ihr zu streun
vergißt sich selbst, verschweigt die Jugend
und schläft im Arm des Lasters ein
träumt glücklich sich und — öd‘ und wüste
erwacht er — schaudert und bereut
kämpft männlich gegen alle Lüste
und — fühlt sich voll Gebrechlichkeit

Du Meisterstück aus Gottes Händen
wär‘ dieß dein einzig Leben nur?
sollt‘ deiner Schöpfung Zweck hier enden?
bliebst du ein Räthsel der Natur?
Nein — Gott schuf dich für Ewigkeiten
für hsh’res Glück, für hell’res Licht
gab Mängel und Vollkommenheiten
zur Prüfung dir, zum Unterricht

Das Straucheln in den Jünglingsjahren
soll für den Mann Erfahrung seyn
Nur nach den größesten Gefahren
kann Ruh‘ und Gluck uns ganz erfreut
Wenn wir mit sehnsuchtsvollen Blicken
nach Wahrheit, Licht und Weisheit spähn
dann erst fühlt unser Herz Entzücken
wenn wir sie ohne Täuschung sehn

Dort, wo sich Heere Sonnen drehen
soll ich des Weltbau’s Herrlichkeit
soll ich des Schöpfers Größe sehen
umstrahlt mich Licht und Seligkeit
der Nebel flieht, mein Blick wird heiter
ich schau, was unerforschlich schien
Mit Engelskräften eil‘ ich weiter
und Sonnen und Planeten fliehn

Text: Joachim Lorenz Evers , 1796 ,  der Verfasser , ein Goldschmied in Altona , war 1758 geboren und starb 1807. Das Gedicht ist bisweilen Schiller zugeschrieben worden. Originaltitel: „Menschenbestimmung“. Ein Freimaurerlied, das in Altona am Bundesfeste am 1. Januar 1796 gesungen wurde. Zuerst gedruckt im gleichen Jahr unter dem Titel: „Rede am Bundesfeste am 1. Januar 1796 von J. L. Evers ( Altona ) und schon 1791 in: Vierhundert Lieder der geselligen und einsamen Fröhlichkeit gewidmet .
Musik: Ries ()

in Als der Großvater die Großmutter nahm (1885)

Liederthema: ,
Liederzeit: vor 1796 : Zeitraum:
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