O lieb so lang du lieben kannst

O lieb’, so lang du lieben kannst
O lieb’, so lang du lieben magst
Die Stunde kommt, die Stunde kommt
Wo du an Gräbern stehst und klagst
Und sorge, dass dein Herze glüht
Und Liebe hegt und Liebe trägt
Solang ihm noch ein ander Herz
In Liebe warm entgegenschlägt

Und wer dir seine Brust erschließt
O tu ihm, was du kannst, zu lieb
Und mach’ ihm jede Stunde froh
Und mach’ ihm keine Stunde trüb
Und hüte deine Zunge wohl
Bald ist ein böses Wort gesagt
O Gott, es war nicht bös gemeint
Der Andre aber geht und klagt

O lieb’, so lang du lieben kannst
O lieb’, so lang du lieben magst
Die Stunde kommt, die Stunde kommt
Wo du an Gräbern stehst und klagst
Dann kniest du nieder an der Gruft
Und birgst die Augen, trüb und nass
– Sie sehn den Andern nimmermehr –
Ins lange, feuchte Kirchhofsgras.

Und sprichst: O schau’ auf mich herab
Der hier an deinem Grabe weint
Vergib, daß ich gekränkt dich hab
O Gott, es war nicht bös gemeint
Er aber sieht und hört dich nicht
Kommt nicht, dass du ihn froh umfängst
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: Ich vergab dir längst

Er tat’s, vergab dir lange schon
Doch manche heiße Träne fiel
Um dich und um dein herbes Wort –
Doch still – er ruht, er ist am Ziel
O lieb’, so lang du lieben kannst
O lieb’, so lang du lieben magst
Die Stunde kommt, die Stunde kommt
Wo du an Gräbern stehst und klagst

Text: Ferdinand Freiligrath (1830)
Musik: a) Franz Liszt – b) Böhme

1830 in Soest gedichtet. (Jedoch erst im Morgenblatt, 1841, Nr. 271 vom 12 November gedruckt) Das Original gibt denselben Text in 10 halb so langen Strophen.
Volkstümliche Lieder der Deutschen (1895, eigene Melodie von Böhme, „B.“)