Der süße Wilhelm saß auf grüner Au

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Der süße Wilhelm saß auf grüner Au
Und seine Braut Lenor‘ auf seinem Schoß
Da wand sie sich aus seinen Armen los:
Sieh hier, sieh dort den kalten Abendtau!
Nimm hin den Abschiedskuß
mein Trauter! Ich muß gehn.
Leb wohl, du süßer Wilhelm,
leb wohl, auf Wiedersehn

Und als sie früh an ihrem Fenster stand
Da hörte sie die helle Dorfschalmei
Da zog der Bräutigam an ihrem Haus vorbei
Die stolze Braut zu seiner rechten Hand
Lenore sank zurück! Lenore weinte laut
»0 Gott! der süße Wilhelm und seine neue Braut!«

Und als es war um tiefe Mitternacht
Da stahl der Bräutigam sich still hinaus
Und als er kam in seines Liebchens Haus
Da lag es schon in weißer Leichentracht
Die Schwestern weinten sich die blauen Augen rot:
»Sieh her, du süßer Wilhelm, sieh, deine Braut ist tot!«

»Noch gestern saßen wir auf grüner Au
Ihr schwor ich treu zu sein mein Leben lang
Und als vom Turm die Mittagsglocke klang
Da hatt‘ ich schon, ich Armer, eine Frau
0, meine Mutter trägt die Schuld an der Geschicht
Sie schwur: den süßen Wilhelm bekommt Lenore nicht!

Und konnt‘ ich nicht auf ihrer Hochzeit sein
So bin ich doch auf ihrem Totenmahl
Ihr Trauerhaus ist nun mein Hochzeitssaal
An ihrer Bahre trink‘ ich kühlen Wein
0, meine Schwestern, bald, bald folg‘ ich ihr hinab!
Begrabt den süßen Wilhelm mit ihr in einem Grab!«

In Tränenflut ergoß er seinen Schmerz
Er barg sein Angesicht ins Leichentuch
Und als die Nachtigall am Morgen schlug
0 weh, da brach der Klagesang sein Herz
Im schönen Maien war’s: sie starb den ersten Tag
Der arme süße Wilhelm folgt‘ ihr am andern nach

Text: Samuel Christian Pape (1774-1817)
in: Traurig aber wahr (1931)