Bleigraue Schatten zittern durch die Luft (Fabrikausgang)

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Bleigraue Schatten zittern durch die Luft
Aus hohen Essen quillt ein blauer Duft
Durch Steingefüge dröhnt der Hämmer Ton
Um Erzgerüst schwirrt dumpf die Transmission
Schwirrt stumpf und dumpf, noch eh‘ die Sonne kam
Bis daß der Tag verglüht in Zorn und Scham
Bis daß die Nacht barmherzig deckt die Qual
Ein Glockenzeichen gellt im Arbeitssaal.

Da stockt der Lärm – und kreischend geht das Tor:
Ein Jüngling stürmt, ein Knabe fast, hervor
Im staubigen Rock, die Mütze tief im Genick,
Ein frohes Leuchten noch im Kinderblick
Staunt er die Welt wie neugeboren an –
Da schiebt ihn seitwärts schon sein Nebenmann
Da drängt’s hervor, wie flügellahme Brut
Da wächst und wogt des Elends graue Flut

Mit bangem Blick die blasse Mutter hier, –
Zu Hause weint der Säugling schon nach ihr
Das Mädel dort, Chrisanthemen am Hut
In flacher Brust erlogne Liebesglut, –
Das frech vertraut dem nächsten Burschen nickt, –
Der Mann, der stieren Auges vor sich blickt,
Und nun der Greis, der matt nach Hause wankt
Und für den Hungerlohn dem Schöpfer dankt . . .

Des Landes Mark, der Großstadt Kraft und Glut
Verschlingt des Elends uferlose Flut
Mit müdem Schritt, die Stirn gesenkt und schwer,
Zur Heimstatt zieht der Arbeit Sklavenheer,
Zu kurzer Rast, daß schlafgestärkt die Kraft
Beim nächsten Morgengraun aufs neue schafft.
Mit frischer Gier, mit nie gestillter Wut
Trinkt die Maschine ihres Herzens Blut,
Vorüber ziehn in seltsam scheuer Hast,
Sie an der Arbeitsherren Prunkpalast:
Den Tisch, der dort vor Überfülle bricht,
Sie deckten ihn, doch ihnen blüht er nicht . . .

Zwei Männer nur, den Hammer in der Hand,
Hemmen den Blick und starren unverwandt
In all den Glast, der Freude goldnen Sitz;
Aus ihren Augen zuckt des Hasses Blitz. –
So blickt der Leu, wenn sich die Schlange regt,
Sie wissen wohl, wohin ihr Fuß sie trägt.
Sie schau’n ihr Ziel, so sternenlicht und weit…
Und um sie braut die große Einsamkeit
Die schwere Ruh. – Vom Himmel dichtgedrängt
Die schwarze Wolkenmasse niederhängt,
Indes am freien Horizont verloht
Sturmdunklen Blicks ein blutig Morgenrot.

Text: Clara Müller (ca 1900 ?)

Liederthema:
Liederzeit: vor 1900 : Zeitraum: