Liederlexikon: Glocke

| 1911

In weit ernsterer Weise dienen ebenso der Hauszucht einige andere Sprüche und Gebete. Das häßliche  Fratzenschneiden wird den Kindern durch die Drohung abgewöhnt:

25) Wer beim Glockenläuten eine Fratze schneidet, behält sie sein Lebtag!

Dieses Drohwort ist keine zufällige Erfindung, sondern stimmt zu dem uralten Glauben an die heilige Zauberkraft der Glocken. Schiller schmückte sein Glockenlied mit der Inschrift der Schafhauser großen Glocke von 1486: vivos voco, mortuos plango, fulgura frango, d. h. Lebende ruf ich, Todte beklag ich, Blitze brech ich. Wie armselig daneben die Magisterweisheit auf der kleinern Glocke von 1604: kulgura non frango, nec plango morte peremtos, d. i. Blitze nicht brech‘ ich noch klag‘ ich um die vom Tode Entrafften. In Bayern geht die Sage, daß einst eitle Burgfräulein, mit ihrem Sonntags-Putz noch nicht fertig, die mahnende Glocke verwünschten und alsbald in Hunde verwandelt wurden. Und wer kennt nicht Goethe’s Ballade von der wandelnden Glocke! In geheimnißvollem Zusammenhang steht die Glocke mit der Kinderwelt auch in einer hessische Sage, die Lynker bringt:

„Bei Wolfhagen liegt ein Flurbezirk, „zu Todenhausen“ genannt, rund um eine schöne klare Quelle. Vor langer Zeit stand hier ein Dorf Todenhausen, das durch Feuer zerstört worden sein soll; als die Flammen auch den Kirchturm ergriffen hatten., fiel die Glocke hinab in den Brunnen und versank. Seitdem heißt er „Glockenborn“. Das Merkwürdigste an diesem Brunnen ist aber, daß unter der Wolfhager Jugend das Märchen geht, die neugebornen Kinder stammten aus demselben, und wer ein Brüderchen oder Schwesterchen haben wolle, müsse
zum Glockenborn gehen und sich eines bestellen.“ Und wie die lutherische Stadt Frankenberg vor dem Ueberfall ihrer katholischen Nachbarn von Köln dadurch gerettet wurde, dass die Glocke um 9 Uhr Abends plötzlich ganz von selbst zum Sturme läutete, erzählt Lynker S. 257; noch heutigen Tages wird mit derselben Glocke zur Erinnerung an die wunderbare Errettung von Feindes Hand jeden Abend um 9 Uhr geläutet. Die Glocke hat Leben, ihr Läuten ist für Kinder- und Dichtersinn Sprache. In Kassel hat sich trotz dem schönen Geläute unsrer Osanna (Hosianna — Herr hilf) leider keiner der anderswo noch üblichen Sprüche erhalten, die der übermüthige Kindermund der Glockcnweise unterlegt. Auch sonst weiß sich die Kasseler Jugend höchstens zu erzählen. daß das Läuten um 12 Uhr Mittags einst die Gemeinde zum Gebet um Rettung vor der drohenden Türkengefahr versammelt habe“ (in Kasseler Kinderliedchen, 1911)