Liederlexikon: Die Zigeunerfrieda

| 1910

„Die Zigeunerfrieda ist eine von sechs finsteren Erziehungs-Geschichten aus dem Kinderbuch „Onkel Knolle“, das im Stile des Struwelpeter die Streiche bzw. Laster böser Buben oder Mädchen erzählt, deren schlimmes Ende die kleinen Leserinnen zur Bravheit motivieren soll, dabei aber womöglich genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie bewirken soll.

Neu herausgegeben wurde diese Mär aus dunklen Tagen (Auflagen von 1910 bis 1960) dankenswerter Weise von dem Kölner Verein Rom e.V., der es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, mit Vorurteilen aufzuräumen und über die lange Tradition der Stigmatisierung von Sinti und Roma in Deutschland aufzuklären. Das Vorwort des Bändchens stammt von Günter Wallraff, der das Buch als fünfjähriger in einer verstaubten Bücherkiste seiner Eltern aufgestöbert hatte.

Der Historiker Kurt Holl schreibt im Nachwort der kritischen Neuauflage:

„Die hier zitierte Geschichte aus einem deutschen Kinderbuch von 1910 gehört zu jenen äußerst folgenreichen Prägungen in der Geschichte unseres Bewußtseins, die bis heute das Verhalten eines Volkes, der Behörden und der Politiker gegenüber den Roma bestimmen: Prägungen, die wir als Kinder erhielten eben durch jene verführerischen Geschichten von fremden Leuten und fremden Ländern, die für uns mangels realer Erfahrung durchaus Realität waren. Und vor dem Fernseh- und Videozeitalter transportierten eben vor allem Kinderbücher jene „Realität“.“

Und Günter Wallraff schreibt im Vorwort:Der Führer kam nicht von ungefähr und nicht aus heiterm Himmel: diese Ausgeburt der deutschen Volksseele war über Generationen angelegt und vorbereitet, auch in scheinbar harmlos-einfältigen Kinderfibeln…..“

„Nun wäre es allerdings eine wohlfeile und überdies nicht sehr originelle Erklärung für die Entstehung rassistischer Vorurteile, wenn wir sie auf eine diffuse Angst / Faszination vor allem Fremden zurückführten. Der Roma-spezifische Rassismus hat, wie der Antisemitismus, vielmehr eine eindeutige Herkunft, genau definierbare Traditionsstränge und verantwortliche Personen: Autoren, Herausgeber, Buchhändler etc., pädagogische Multiplikatoren.

Kaum erforscht: Anti-Ziganismus

Das alles ist freilich kaum erforscht: weder die Herkunft der Stereotype aus militärtaktischen Sicherheitsmaßnahmen ( während der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit den »Türken« wurden die beiderseits der österreichischen Militärgrenze wohnenden Roma grundsätzlich als Spione und Verräter denunziert, ein Verdacht, der sich bis in den zweiten Weltkrieg nachweisen läßt); erforscht ist auch kaum die enge Verwandschaft des Anti-Zigeunerstereotyps mit frauenfeindlichen Mustern, auffällig in der ganzen Hexenliteratur.

Anläßlich der Herausgabe dieses Kapitels aus einem deutschen Kinderbuch, beschränken wir uns auf einen Traditionsstrang, der vermutlich seinen Ursprung in der Formung (Disziplinierung) des neuzeitlichen Bürgerlichen Subjekts hat, in der gewaltsamen Durchsetzung bürgerlicher Arbeitsdisziplin und der Ehmmie-rung der Bettler, Vagabunden, Landstreicher, Diebe und Tagediebe, wie sie Marx im 24. Kapitel des Kapitals (Bd.I) eindringlich beschrieben hat. Der Durchsetzung der Arbeitsdisziplin mit Peitschen, Galgen und Arbeitshäusern entspricht ein Prozeß der Internalisierung, der die neue Moral zunächst über religiöse Erziehung, später über bürgerliche Pädagogik (Aufklärung) in Hirne, Herzen und Leib einbrennt.

Ein gängiger Topos der entstehenden bürgerlichen Kinderbuchliteratur wird die Warnung vor den gefährlichen Zigeunern, die fast schon zur systematischen Gegenwelt bürgerlichen Lebens stilisiert werden, wo Seßhaftigkeit gleichbedeutend mit der Einbindung in den territorialen Nationalstaat ist.“ (Kurt Holl im Nachwort zur Zigeunerfrieda)

Weiter erwähnt Kurt Holl, daß noch 1880 eine Zigeunergeschichte aus einem bekannten Kinderbuch als diskriminierend entfernt worden war.

„Es handelt sich um das Kinderbuch Alwin und Theodor von Jakobs, zuerst erschienen 1805/7. In der Neuauflage von 1880 bemerkte der Herausgeber: »Zur Weglassung der Erzählung Der Fischerknabe, behandelnd die Entführung eines Knaben durch Zigeuner, wurde ich veranlaßt durch die Erwägung, daß derlei Vorfälle stets zu den Seltenheiten gehört haben und gegenwärtig als gänzlich ausgeschlossen zu betrachten sind, daß aber der Glaube daran im Volke immer noch lebendig ist und durch die schlichte Erzählung des glaubwürdigen Jakobs in schändlicher Weise neue Nahrung erhalten würde.«

Man sieht: Rassismus ist keine naturwüchsige Strömung, sondern ein immer wieder eingesetztes Stimulanz, für dessen Auftreten oder Abbau z.B. Autoren, Verleger, Buchhändler verantwortlich sind. Und es ist kein Zufall, wenn das Motiv 1910 wieder auftritt und auch bis zur letzten Auflage des Onkel Knolle im Jahre 1960 erhalten bleibt:

Wie in vielen anderen Bereichen war eben auch hier 1945 kein Kontinuitätsbruch. Der Kinderraub-Vorwurf gehört übrigens zu den ältesten Bestandteilen von Gruppendiskriminierungen: die Römer unterstellten es den Christen, die siegreichen Christen später ihren Häretikern und den Juden. Ist der Verdacht erst in der Welt, genügt oft ein einziger Vorfall, damit sich das Vorurteil als empirisch bestätigtes Urteil über die Gesamtgruppe ausweisen kann. Der Verein Rom e.V. dankt Günter Wallraff, daß er uns auf das Kinderbuch aufmerksam machte und es zur Verfügung stellte.  Kurt Holl