Liederlexikon: Die lauter Wahrheit

| 1608

„Die lauter Wahrheit“, darinnen angezeiget, wie sich ein Weltlicher u. Geistlicher Kriegesmann in seinem Beruf verhalten soll. von Bartholomaeus Ringwaldt, Singe, 1608

Sein großes Lehrgedicht, „Die lauter Warheit“, welches seit 1585 19 Mal gedruckt wurde, nach Hoffmann’s Ausdruck ein wahrer Zeit- und Sittenspiegel Deutschlands. Er geht aus von dem im Reformationszeitalter häufig benutzten paulinischen Bilde der geistlichen Waffenrüstung, aber er schildert nicht wie die französische Moralität „Mundus, Caro, Daemonia“ oder der niederländische Dramatiker Laurimanus oder die Deutschen Huberinus, Bresnicer und Dedekind den Kampf des christlichen Ritters mit den höllischen Mächten, sondern er führt den Vergleich zwischen einem weltlichen Kriegsmanne und einem Christen an 24 Eigenschaften des ersteren und ebensoviel „Applicationen“ auf den letzteren durch, und hofft damit „den Teuffel zu entrüsten, und etlichen hartneckichen vnd hochtrabenden Sündern eine Klette oder frische Leimspille in den Bart zu werffen, das ist ihnen ins Gewissen zureden vnd auffs wenigste Gedancken, wolt Gott bußfertige, zumachen.“

Mag man auch mit Gervinus die Einkleidung schleppend und langweilig finden, so muß man doch die frischen, naturgetreuen Charakterbilder bewundern, welche er hier wie im „Treuen Eckart“ von den verschiedenen Ständen entwirft, um daran Mahnung und Belehrung anzuknüpfen. Treffend zeichnet er den Wucherer, den Spieler, den Aufschneider, „Junker von Mentiris“, den Säufer, die verschiedenen Arten der Trunkenheit, z. B.:

Ein ander denn in voller weis
Andechtig zu erseufftzen weis,
[642] Red viel von Gott, vnd thut darnebn
Die Hende gegen Himmel hebn,
Als wer er voller Heiligkeit,
Vnd ist Bier vnd Barmherzigkeit.
Desgleichen redt er ohne List,
Sagt alles raus, was in jhm ist,
Vnd alle Ding so hertzlich meint,
Das er darüber Threnen weint.

Er geißelt die Laster des Kleiderprunkes, des Banketierens, der Raufsucht, die Habsucht des Adels, welcher die Kirchengüter an sich reißt, er verspottet die Alchymisterei, aber hat auch ein Auge für die schönen Seiten des Lebens und preist wie Fischart mit herzlicher Wärme die Ehe und das einträchtige Familienleben. Er schildert einen Schulmeister, wie er sein soll, und vermahnt die Mütter zu rechter Kinderzucht; dem bösen Richter und Juristen stellt er einen guten gegenüber, und hält ebenso den Söhnen und Töchtern, den Knechten und Mägden das Beispiel eines wohlgerathenen und eines bösen Genossen vor; die anschauliche Beschreibung der frommen Magd („Eine fromme Magd von gutem Stand“) ist durch C. M. v. Weber’s hübsche Composition bekannt.

Freimüthig wendet er sich auch an seine Amtsgenossen und schilt sie, daß sie öfter im Kruge sitzen und Kegel schieben, daß sie im Hochmuth sich weiser als Paulus dünken, einander calvinistisch heißen und über das Concordienbuch unnütz hadern, spintisiren und scrupuliren: „Ihr werdet doch mit ewrem schreibn Im Wort wol arme Schüler bleibn, Vnd nimmermehr das quare, qui, Et quomodo ergründen hie.“ Den Pfarrfrauen schärft er Gastfreiheit ein.

Besonders betrübt ihn die Zerrissenheit des Reiches; in patriotischem Eifer mahnt er die Fürsten, vorab die evangelischen, mit beweglichen Worten zur Einigkeit, damit man den Türken und dem Papste kräftig entgegentreten könne: „O edler Fried, du höchstes Gut, Wol dem, der bey dir wohnen thut, Vnd fröhlich vnter deinem Zelt Sich mit den seinen auffenthelt.“ Und das Alles geschieht in praktischer, anschaulicher Weise, ohne dogmatische Weitläufigkeit, in kräftigem Ausdruck und ungesuchter Bilderfülle; für den Tod am Galgen braucht er z. B. die Wendungen: am grünen Baum im Hanf ersaufen, oder: die Sterne durchs hänfen Fenster beschauen, oder: mit einem Spieß, da man die Küh anbindt, erschossen werden; ferner: mit dem Henker auf einem dürren Eichenstamm zusammenkommen, der hinderm Nacken Knoten schürzt, den Körper längt, den Atem kürzt; oder: „dem Henker in die Dohnen fallen, da ihm die hochgeseßnen Raben die harten Ohren werden schaben, mit welchen er nicht kunnte hören, wenn man ihn wollt was Gutes lehren“.

R. tritt durch dies große Sittengemälde, welches auch im 17. Jahrhundert noch viel gelesen wurde, als ein würdiger Nachfolger an die Seite Seb. Brant’s. Fünfzig Jahre später stellte ein anderer Satiriker, Moscherosch, in seinen Gesichten Philander’s II, 6 aus einzelnen Stellen der „Lauteren Warheit“ einen ausführlichen „Lehr-Brieff der Soldaten“ (664 Verse) zusammen.

Johannes Bolte: Allgemeine Deutsche Biographie (1889)