Liederlexikon: Zitrone

| 1908

Die Zitrone (Citrone) wurde erst zur Zeit Alexanders des Großen in Griechenland einheimisch. Theophrast erwähnt sie zuerst. Sie wurde nun mit den goldenen Aepfeln der Hesperiden identifiziert, die Gäa als Hochzeitsgeschenk für die Hera aus ihrem Schoß emporsprießen ließ. Griechen wie Römer haben jedoch keinerlei erotische Vorstellungen um die goldene Frucht gewoben. Erst am Ausgang des Mittelalters gewann der Citronen- und Orangenbaum immer mehr Ansehen in Mitteleuropa. Wegen der schönen weißen Blüten wurde er zum Keuschheitsbaum. So schmückt man schon im XVII. Jhdt. in Frankreich die vornehmen Bräute mit Orangenblüten. Die Citrone selbst verwendeten die Frauen des Hofes als kosmetisches Mittel; sie trugen stets eine bei sich, bissen von Zeit zu Zeit hinein, um sich dadurch den Atem zu parfümieren und den Lippen ein helles Rot zu geben. —

In Deutschland hat die Citrone hauptsächlich bei Leichenbegängnissen (nach indischer Sitte) eine Rolle gespielt. —Vielleicht hat sie einen sexuellen, auf die Fruchtbarkeit deutenden Charakter in jenem weimarschen Brauch: die Burschen und Mädchen des Ortes pflanzen am Polterabend eine grüne Tanne vor das Brauthaus, stecken eine Citrone auf sie, die den Namen der Brautleute trägt.

Mehr als der Apfel erinnert die Citrone mit ihrer Warzenerhebung an die weibliche Brust, ja man kann Warze, Aureole, Milchhügel in geradezu naturalistischer Weise dargestellt sehen. So wurde eine Art als „Tittencitrone“, als Citrus mammosa bezeichnet. Auf erotischen Scherzbildern werden Orangen zwischen die Brüste des Mädchens gelegt, mit diesen symbolisiert, darunter liest man: „Sind Orangen gefällig“. —

Bei anderen Orangefrüchten bildet das zitzenförmige Ende einen Absatz, welcher wie durch einen Menschenbiß entstanden zu sein scheint. Daher die Sage der Juden, nach welcher der Adamsapfel (C. auratus pomum Adami) die Frucht des verbotenen Baumes im Paradiese war, in welche zu beißen Adam von Eva sich verführen ließ.

In einem weitverbreiteten Märchen von drei Orangen wird diese Frucht der Leben bergenden Nuß gleichgesetzt. Der Märchenheld, ein Prinz, sucht sich eine Frau. Er bekommt drei Orangen, aus denen drei Jungfrauen herauskommen sollen. Er darf sie aber nicht eher aufschneiden, als bis er ans Wasser kommt. Unterwegs macht er eine, dann die andere Orange auf; aus dieser kommt je ein Mädchen heraus und ruft; Wasser! Da keins in der Nähe ist, starben beide Mädchen vor Durst. Nur die letzte Orange bringt der Held glücklich an eine Quelle. Die Jungfrau kommt aus der Orange heraus, bekommt zu trinken und wird nach vielen Mühen endlich seine Frau. Das Märchen ist hei den alten Griechen, Türken, Korsikanern, Rumänen, Slovenen, Kroaten und Polen verbreitet, siehe ,,Der Urquell“ N. F. II. 195. Die Fassung aus Zakynthos ist mitgeteilt in Z. f. d. M. 1V. 320 u. f. — Im Sprichwort wird das Mädchen, das der untreue Liebhaber genossen und dann verlassen hat, mit der ausgepreßten Citrone verglichen: „Wenn die Citrone ausgedrückt ist, wirft man sie weg“.

in Volkserotik und Pflanzenwelt (1908)

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