Das ist die Zeit der schweren Not

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Das ist die Zeit der schweren Not! –
bar des Erwerbs und ohne Brot
läßt man den Armen ganz allein,
nur überlassen seiner Pein.
Du, der dich wiegt Fortunas Schoß
was kümmert dich sein herbes Los.
Du wohnst in deinem stolzen Haus
und gehst in schmucken Kleidern aus
Hast jeden Tag dein sattes Brot
du kennst sie nicht die graue Not.-

Komm! – Willst einmal die Not du sehn? –
Dann mußt du durch die Gassen gehen
wo sich zwängt schmutzig Haus an Haus
wo Mutter Sorge ist zu Haus
Da, wo man unter schwerer Fron
sich schinden muß für kargen Lohn
wo nie zur Lust das Leben lockt
dumpf brütend die Verzweiflung hockt
dort, wo man flucht auf Mensch und Gott
komm mit ! Dort finden wir die Not! –

Sieh jenes abgehärmte Weib
mit welker Brust und schwangerem Leib
mit dem erloschenen müden Blick
frag sie – sie weiß nichts von dem Glück
Sie lebt nur ihrer schweren Pflicht
des Lebens Sonne schien ihr nicht
Der Mann liegt sich auf dürftiger Statt
dazu drei Gören, die nie satt
zwei nahm ihr der barmherzige Tod
das ist die Not, die graue Not

Auf, schau zu jenem Fenster hin
wo sitzt die Heimarbeiterin
Sie sitzt gebeugt und schafft und wacht
wenn andere längst schon Schicht gemacht
und Stich auf Stich sie näht und näht
oft bis die Nacht durchs Fenster weht
brennt auch ihr Auge noch so sehr
sind auch die Lider noch so schwer
Doch vorwärts , vorwärts nur – fürs Brot !
Das ist die Not, die graue Not!

Schau auf dem Straßendamm dir an
den invaliden Leiermann !
Er zieht den Leierkasten nach
und dreht den Schwengel Tag für Tag
Mit bebender, verwelkter Hand
spielt er ein Lied dem Vaterland
Auf seiner Brust ein Kreuzlein blinkt
wofür auf einem Bein er hinkt
so orgelt er fürs liebe Brot
das ist die Not, die graue Not

Späht dort nicht unterm dunklen Tor
ein Weibsbild, leicht geschürzt, hervor
Gar blühend scheint dir ihr Gesicht
nur Trug – so ist das Leben nicht.
Schau dir nur an die fahle Stirn
den aufgescheuchten Blick der Dirn
Sie lockt dich lächelnd: Komm mit Mir!
Und doch, ihr Herz spricht nicht zu Dir,
die Seele ist ja längst schon tot.
Das ist die Not, die graue Not! –

Tritt durch dies düstere Portal
mit mir ins Armenhospital
dort, wo von jedem Angesicht,
das graue Elend zu dir spricht
Sie haben hoffend stets geschafft
bis sie die Not hat stumpf gemacht
Nun sind sie schwach, nun geht’s nicht mehr
zum Sterben schleppten sie sich her
Hier zehren sie vom Gnadenbrot
im Haus der Not, der grauen Not!

Text: Hermann Wehner , Barmen (heute Wuppertal )
in: “ Der Textilarbeiter „, Nr.42, 15.10.1920

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