Es muß im 9. und 10. Jahrhundert, ungefähr gleichzeitig mit dem Ludwigsliede, auch ein Lied auf den fränkischen König Karlmann vorhanden gewesen sein. Das bezeugt schon der Ausspruch des im 10. Jahrhundert lebenden Dichters Saxo, der unter den weltlichen Gedichten zum Lobe der Großväter und Urgroßväter Pipin, Karl, Ludwig, Theodorich, auch Karlmann und Lothar aufführt. Es ist uns sogar die Strophenform (Modus) eines verschollenen Karlmannsliedes in zwei lat. Sequenzen geistlichen Inhalts erhalten worden, deren Überschriften Liddy Karlomanici  und Modus Karelmanninc das Vorhandensein eines Karlmannsliedes unzweifelhaft machen.

Zunächst wurde die Melodie eines solchen zu einer Sequenz auf St. Paulus benutzt. DieÜberschrift dieser Paulus-Sequenz heißt: „De sanctissimo Paulo Apostolo ac gentium doctore in commemorationem ejusdem sequenzia. Liddy (d. h. Lied) Karlomannici“.

Das Gedicht beginnt: Concurrite huc, populi te e insule mentibus et promptulis magisto gentrium assiatis … (Cod S. Gall Nr. 546; daher vollständig bei Müllenhoff, Denkm. 309.

Wiederum wurde vom Dekan Eckehardt IV. zu St. Gallen (gestorben 978) eine lat. Übersetzung des deutschen Karlmannsliedes, das er Lidius Charlomannicus nennt, veranstaltet von dem eben nur die Anfangworte erhalten sind, welche merkwürdigerweise mit Str. 19 der Paulussequenz übereinstimmen und (nach Müllenhoff 310) heißen: Mole ut vicendi ipse quoque opponam.

Verschieden von dieser Paulussequenz ist eine zweite Benutzung der Karlmannsmelodie: es ist ebenfalls eine lat. Sequenz geistl. Inhalts mit der Überschrift Modus qui et Carelmanninc. Sie ist aus der Wolfenbüttler Gegend (Cod. Aug. 56:16) vollständig mitgeteilt bei Müllenhoff. Denkm. 26. Es sind 70 Zeilen mit ungleichen Absätzen. Der erste beginnt:

Qui, celo scandens, soli regna
visitavit, redempturus hominem …»

Mit dem Modus Carelmanninc ist jedenfalls eine Melodie zu einem verlorenen Gedichte auf Karlmann bezeichnet. Welcher Karlmann ist hier gemeint? Nicht darf man an den Bruder Karls des Großen denken (weil die Sequenzform noch nicht so alt ist), sondern an den Sohn Ludwigs des Deutschen, der 876— 880 König über Baiern und die östl. Grenzmarken war. Sein Zug nach Italien gegen seinen Oheim Karl den Kahlen, der auf die Nachricht von Karlmanns Nahen in schimpflicher Flucht Pavia verließ, oder aus früherer Zeit die Empörung gegen seinen Vater, insbesondere sein heimliches Entweichen 864 und die Versöhnung 865 boten gewiss einen geeigneten Stoff für ein Gedicht, von dem die Form jetzt zu einem geistl. Lobliedc auf die Erlösung der Welt benutzt wurde.

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