Für alle! hören wir die Worte tönen
Da wird das Herz uns plötzlich groß und weit
Sie künden uns wie mit Drommetendröhnen
Den Siegsgesang der echten Menschlichkeit
Denn anders ist kein heilig Werk zu krönen
Und anders nie zu enden Kampf und Streit
Als wenn ein Heil, das in die Welt gekommen
Der Sonne gleich für alle ist entglommen

„Für alle!“ sangen einst der Engel Scharen
In jener gottgeweihten heil’gen Nacht
Für alle will der Herr sich offenbaren
In seiner ewigtreuen Liebesmacht
Für alle hat er Not und Tod befahren
Und der Erlösung großes Werk vollbracht
Das gleich den Gliedern eines Leibes einte
Mit festem Band die gläubige Gemeinde

Für alle – klang es im Hussitenheere –
Ist auch der Gnade Kelch mit Christi Blut
Denn allen ward verkündet seine Lehre
Die in der Gleichheit aller Menschen ruht
Und Erd und Himmel hat nicht höhre Ehre
Als nun uns wird mit dem geweihten Gut
Im Märtyr’tum, in grauser Todeshalle
Ertönt es noch: Der Kelch des Heils für alle!

So wußten sie die Losung recht zu fassen
Erteilten sie an Mann und Weib zugleich
Sie wollten nicht das hohe Erbteil lassen
Das Bürgertum im neuen Liebesreich
Da gab es keinen Neid mehr und kein Hassen
Kein Sklaventum, kein Herrschen stark und feig
Die Seelen galt’s, die freien, zu erretten
Aus düsterm Bann, aus schwerer Knechtschaft Ketten

Wo wieder aber ward der Ruf vernommen
„Für alle Freiheit!“ klang es fast wie Hohn
Denn für die Männer nur war er gekommen
Im Wettersturm der Revolution
Denn schien auch Joch auf Joch hinweggenommen
Und stürzte auch in Trümmer Thron um Thron
Dem Männerrecht nur galt das neue Ringen
Das Frauenrecht blieb in den alten Schlingen

Wohl grüßten freie Männer sich als Brüder
Nur Bürger gab es, nicht mehr Herr und Knecht
Wohl sangen sie der Liebe Bundeslieder
Und fühlten sich als ein erneut Geschlecht
Doch auf die Schwestern blickten stolz sie nieder
Der Menschheit Hälfte blieb noch ohne Recht
Blieb von dem Ruf: „für alle!“ ausgenommen
Ihr muß erst noch der Tag des Rechtes kommen

Der Frauen Schar, die in den Staub getreten
Ward nur erhoben an des Glaubens Hand
Die Besten lernten fromm zum Himmel beten
Weil ja die Erdenwelt sie nicht verstand
Die andern aber ließen sich bereden
Sie seien nur bestimmt zu Spiel und Tand
Es sei ihr höchstes Ziel im süßen Minnen
Des ganzen Lebens Inhalt zu gewinnen

Doch wiederum wird einst der Ruf erklingen
So wie vor Gott sind wir auf Erden gleich!
Die ganze Menschheit wird empor sich ringen
Zu gründen ein erneutes Liebesreich
Dem Weibe wie dem Mann sein Recht zu bringen
Zu wahren mit des Friedens Palmenzweig
In laut’rer Wahrheit stolzem Siegesschalle
Tönt’s noch einmal: „Erlösung kam für alle!“

Louise Otto-Peters

Liederthema:
Liederzeit: vor 1845 : Zeitraum: