Es ist ein Bäumlein gestanden im Wald
in gutem und schlechtem Wetter
Das hat von unten bis oben
nur Nadeln gehabt statt Blätter
Die Nadeln, die haben gestochen
das Bäumlein, das hat gesprochen
„Alle meine Kameraden
haben schöne Blätter an
und ich habe nur Nadeln
niemand rührt mich an
Dürft ich wünschen, wie ich wollt
wünscht ich mir Blätter von lauter Gold.
Wie´s Nacht ist, schläft das Bäumlein ein
und früh ist’s aufgewacht
Da hatt’ es goldene Blätter fein
das war eine Pracht
Das Bäumlein spricht: „Nun bin ich stolz
Goldene Blätter hat kein Baum im Holz.”
Aber wie es Abend ward
ging der Bauer durch den Wald
mit großem Sack und großem Bart
Der sieht die goldnen Blätter bald
Er steckt sie ein, geht eilends fort
und lässt das leere Bäumlein dort
Das Bäumlein spricht mit Grämen:
„Die goldnen Blättlein dauern mich
ich muss vor den andern mich schämen
sie tragen so schönes Laub an sich
Dürft ich mir wünschen noch etwas
so wünscht’ ich mir Blätter von hellem Glas.“
Da schlief das Bäumlein wieder ein
und früh ist‘ s wieder aufgewacht
Da hatt es glasene Blätter fein
Das war eine Pracht
Das Bäumchen sprach: „Nun bin ich froh
Kein Baum im Walde glitzert so.“
Da kam ein großer Wirbelwind
mit einem argen Wetter
Der fährt durch alle Bäume geschwind
und kommt an die gläsernen Blätter
Da lagen die Blätter von Glase
zerbrochen in dem Grase
Das Bäumlein spricht mit Trauern
„Mein Glas liegt in dem Staub.
Die anderen Bäume dauern
mit ihrem grünen Laub.
Wenn ich mir noch was wünschen soll,
wünsch’ ich mir grüne Blätter wohl.”
Da schlief das Bäumlein wieder ein
und wieder früh ist’s aufgewacht
Da hatt es grüne Blätter fein
Das Bäumlein lacht
und spricht: „Nun hab’ ich doch Blätter auch
Dass ich mich nicht zu schämen brauch.“
Da kommt mit vollem Euter
die alte Geis gesprungen.
Sie sucht sich Gras und Kräuter
für ihre Jungen
Sie sieht das Laub und fragt nicht viel
sie frisst es ab mit Stumpf und Stiel
Da war das Bäumchen wieder leer
es sprach nun zu sich selber:
„Ich begehre nun keine Blätter mehr
weder grüner, noch roter, noch gelber
Hätt’ ich nur meine Nadeln
ich wollte sie nicht tadeln.”
Und traurig schlief das Bäumlein ein
und traurig ist es aufgewacht
Da besieht es sich im Sonnenschein
und lacht und lacht
Alle Bäume lachen’s aus
Das Bäumlein macht sich aber nichts daraus
Warum hat’s Bäumlein denn gelacht
und warum denn seine Kameraden?
Es hat bekommen in der Nacht
wieder alle seine Nadeln
dass jedermann es sehen kann
Geh naus, sieh’s selbst
doch rühr‘ s nicht an
Warum denn nicht?
Weil‘ s sticht
Text: Friedrich Rückert, 1813 in : „Fünf Märlein zum Einschläfern für mein Schwesterlein“
in Der Kinder Lustfeld (1827)