Ein deutsches Volkslied (Wir versaufen unser Oma)

Kurt Tucholsky (in: Die Weltbühne, 14.12.1922, Nr. 50, S. 623.)

In deutschen Landen ist augenblicklich ein Lied im Schwange, das den vollendetsten Ausdruck der Volksseele enthält, den man sich denken kann – ja, mehr: das so recht zeigt, in welcher Zeit wir leben, wie diese Zeit beschaffen ist, und wie wir uns zu ihr zu stellen haben. Während der leichtfertige Welsche sein Liedchen vor sich hinträllert, steht es uns an, mit sorgsamer, deutscher Gründlichkeit dieses neue Volkslied zu untersuchen und ihm textkritisch beizukommen. Die Worte, die wir philologisch zu durchleuchten haben, lauten:

Wir versaufen unser Oma sein klein Häuschen
sein klein Häuschen, sein klein Häuschen
und die erste und die zweite Hypothek!

Bevor wir uns an die Untersuchung machen, sei zunächst gesagt, daß das kindliche Wort „Oma“ so viel bedeutet wie „Omama“, und dieses wieder heißt „Großmutter“. Das Lied will also besagen: „Wir, die Sänger, sind fest entschlossen, das Hab und Gut unsrer verehrten Großmutter, insbesondere ihre Immobilien, zu Gelde zu machen und die so gewonnene Summe in spirituösen Getränken anzulegen.“ Wie dies –?

Das kleine Lied enthält klipp und klar die augenblickliche volkswirtschaftliche Lage: Wir leben von der Substanz. So, wie der Rentner nicht mehr von seinen Zinsen existieren kann, sondern gezwungen ist, sein Kapital anzugreifen – so auch hier. Man beachte, mit welcher Feinheit die beiden Generationen einander gegenübergestellt sind: die alte Generation der Großmutter, die noch ein Häuschen hat, erworben von den emsig verdienten Spargroschen – und die zweite und dritte Generation, die das Familienvermögen keck angreifen und den sauern Schweiß der Voreltern durch die Gurgel jagen will!

Mit welch minutiöser Sorgfalt ist die kleine Idylle ausgetuscht; diese eine Andeutung genügt – und wir sehen das behaglich kleinbürgerliche Leben der Großmama vor uns: freundlich sitzt die gute alte Frau im Abendsonnenschein auf ihrem Bänkchen vor ihrem Häuschen und gedenkt all ihrer jungen Enkelkinder, die froh ihre Knie umspielen . . .

Das ist lange her, Großmutter sank ins Grab, und die grölende Korona der Enkel lohnt es ihr mit diesem Gesang: „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen . . . “ Ist dies ein Volkslied –? Es ist seine reinste Form.

Man darf freilich nicht an früher denken. Früher sang wohl der Wanderbursch sein fröhlich Liedchen von den grünen Linden und den blauäugigen Mägdelein – weil das sein Herz bewegte. Nun, auch dieses Lied singt von dem, was unser Herz bewegt: von den Hypotheken. Hatte früher Walther von der Vogelweide sein „Tandaradei“ durch die Lüfte tönen lassen und den Handel den Pfeffersäcken überlassen, so ist es heute an den Kaufleuten, „Tandaradei!“ zu blasen, und die Liederdichter befassen sich mit den Hypotheken. Wenn auch freilich in naiver Weise.

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