Liederlexikon: Johann Philipp Becker

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Johann Philipp Becker wurde am 20. März 1809 in Frankenthal geboren und starb am 9. Dezember 1886 in Genf. Er kämpfte als Revolutionär in der badischen Revolution 1849 und war einer der maßgeblichen Organisatoren der badischen Volkswehr. Später wurde er Schweizer Sozialdemokrat und führendes Mitglied der I. Internationale sowie Redakteur deren Schweizer Presseorgans. Seit den 1860er Jahren verband ihn eine enge Freundschaft mit Karl Marx, insbesondere aber mit Friedrich Engels. Friedrich Engels schrieb wenige Tage nach seinem Tod einen Nachruf auf ihn:

Nachruf von Friedrich Engels

Wiederum hat der Tod eine Lücke gerissen in den Reihen der Vorkämpfer für die proletarische Revolution. Johann Philipp Becker ist am 7. Dezember in Genf gestorben.
Geboren 1809 zu Frankenthal in der bayrischen Pfalz, beteiligte er sich, kaum den Kinderschuhen entwachsen, schon in den zwanziger Jahren an der politischen Bewegung seiner Heimat. Als nach der Julirevolution, anfangs der dreißiger Jahre, diese Bewegung einen republikanischen Charakter annahm, war Becker einer der tätigsten und entschiedensten Teilnehmer. Mehrmals verhaftet, vor die Geschwornen gestellt, freigesprochen, mußte er endlich vor der siegenden Reaktion flüchten. Er ging in die Schweiz, ließ sich in Biel nieder, erwarb das Schweizer Bürgerrecht. Auch hier blieb er nicht untätig; nach der einen Seite beschäftigten ihn die Angelegenheiten der deutschen Arbeitervereine und die Revolutionsversuche der deutschen, italienischen, überhaupt europäischen Flüchtlinge; nach der andern der Kampf der Schweizer Demokratie um die Herrschaft in den einzelnen Kantonen. Man weiß, wie dieser Kampf, namentlich anfangs der vierziger Jahre, vermittelst einer Reihe von bewaffneten Einfällen in die aristokratischen und klerikalen Kantone geführt wurde. In die Mehrzahl dieser „Putsche“ war Becker mehr oder weniger verwickelt und wurde schließlich deswegen zu zehnjähriger Verbannung aus seinem Heimatskanton Bern verurteilt. Diese kleinen Kriegszüge gipfelten endlich 1847 im Sonderbundskrieg; Becker, der der schweizerischen Armee als Offizier angehörte, trat an seinen Posten und führte während des Marsches auf Luzern die Vorhut der Division, der er zugeteilt war.
Die Februarrevolution 1848 brach aus; ihr folgten die Versuche, Baden durch Freischarenzüge zu republikamsieren. Als Hecker seinen Zug machte, bildete Becker eine Flüchtlingslegion, konnte aber erst an der Grenze erscheinen, nachdem Hecker schon wieder zurückgeschlagen war. Diese später großenteils in Frankreich internierte Legion lieferte 1849 den Kern für einige der besten Truppenteile der Pfälzer und badischen Armee.
Als im Frühjahr 1849 in Rom die Republik proklamiert wurde, wollte Becker aus dieser Legion ein Hülfskorps für Rom organisieren. Er ging nach Marseille, bildete die Kadres und traf Anstalt, die Mannschaft zusammenzuziehen. Aber wie bekannt, schickte sich die französische Regierung an, die römische Republik zu erdrücken und den Papst |Puis IX.| zurückzuführen. Es verstand sich von selbst, daß sie die Überführung von Hülfstruppen für ihre römischen Gegner verhinderte. Becker, der schon ein Schiff gemietet, wurde kategorisch bedeutet, man werde sein Schiff in den Grund bohren, sobald es Miene mache, den Hafen zu verlassen.
Da brach die Revolution in Deutschland los. Becker eilte sofort nach Karlsruhe, die Legion folgte nach und nahm später unter Bönings Führung am Kampf teil, während ein anderes Stück der alten 1848er Legion, von Willich in Besançon ausgebildet, dem Willichschen Freikorps als Kern diente. Becker wurde zum Chef der gesamten badischen Volkswehr, also aller Truppen außer der Linie, ernannt und ging sogleich an die Organisation. Hier stieß er sofort auf den Widerstand der von der reaktionären Bourgeoisie beherrschten Regierung und ihres Führers Brentano. Seine Befehle wurden durchkreuzt, seine Forderung von Waffen und Ausrüstungsgegenständen unbeachtet gelassen oder direkt abgeschlagen. Der Versuch am 6. Juni, die Regierung durch die revolutionäre bewaffnete Macht zu intimidieren, ein Versuch, an dem Becker sehr stark beteiligt war, endigte unentschieden; aber Becker und seine Truppen wurden nun schleunigst von Karlsruhe an den Neckar gegen den Feind geschickt.
Hier hatte der Kampf schon im Kleinen begonnen, und die Entscheidung nahte heran. Becker mit seinen Freischaren und Volkswehren besetzte den Odenwald. Ohne Geschütz und Reiterei mußte er seine wenigen Truppen zur Besetzung des ausgedehnten und schwierigen Gebiets verzetteln und behielt nicht genug in der Hand, um angreifend vorgehen zu können. Trotzdem befreite er am 15. Juni durch ein brillantes Gefecht seine im Schloß von Hirschhorn durch die Peuckerschen Reichstruppen umzingelten Hanauer Turner.

Als Mieroslawski den Oberbefehl der Revolutionsarmee übernahm, erhielt Becker das Kommando über die 5. Division – lauter Volkswehr und lauter Infanterie – mit dem Auftrag, dem Peuckerschen Korps, das ihm mindestens sechsmal überlegen war, Widerstand zu leisten. Aber gleich darauf kam der Rheinübergang der ersten preußischen Korps bei Germersheim, der Zug Mieroslawskis ihm entgegen, die Niederlage von Waghäusel am 21. Juni. Becker hielt Heidelberg besetzt; von Norden drängte das zweite preußische Korps von Groeben, von Nordosten das Korps Peuckers, jedes über 20.000 Mann stark, im Südwesten standen Hirschfelds Preußen, ebenfalls über 20.000 Mann. Und nun wälzten sich die Flüchtlinge von Waghäusel, d.h. die ganze große Masse der badischen Armee, Linie und Volkswehr, nach Heidelberg, um durchs Gebirg auf einem enormen Umweg den ihnen in der Ebene verlegten Weg nach Karlsruhe und Rastatt zu finden.
Diesen Rückzug sollte Becker decken – mit seinen eben ausgehobenen ungeübten Leuten und wie immer ohne Reiterei und Geschütz. Nachdem er den Flüchtlingen hinreichend Vorsprung gelassen, zog er am 22. abends 8 Uhr von Heidelberg nach Neckargemünd, wo er ein paar Stunden rastete, kam am 23. nach Sinsheim, wo er angesichts des Feindes in Schlachtordnung wieder einige Stunden ruhen ließ, und denselben Abend nach Eppingen, und am 24. über Breiten nach Durlach, wo er abends 8 Uhr ankam, um aufs neue in den ungeordneten Rückzug der jetzt vereinigten pfälzisch-badischen Armee verwickelt zu werden. Hier erhielt Becker auch noch den Befehl über die Trümmer der Pfälzer Truppen und sollte nun nicht nur den Rückzug Mieroslawskis decken, sondern auch Durlach solange halten, bis Karlsruhe geräumt war. Wie immer ließ man ihn auch jetzt wieder ohne Artillerie, denn die ihm zugewiesene war bereits abmarschiert.
Becker verschanzte Durlach, so gut es in der Eile ging, und wurde gleich am nächsten Morgen (25. Juni) von zwei preußischen Divisionen und von den Peuckerschen Reichstruppen von drei Seiten her angegriffen. Er wies nicht nur alle Angriffe ab, sondern ging wiederholt selbst zum Angriff über, trotzdem er das Geschützfeuer des Feindes nur durch Schützenfeuer erwidern konnte, und zog nach vierstündigem Kampfe, unbehelligt von den ausgesandten Umgehungskolonnen, erst dann in bester Ordnung ab, nachdem er die Nachricht erhalten, daß Karlsruhe geräumt und sein Auftrag erfüllt sei.
Dies ist wohl die glänzendste Episode im ganzen badisch-pfälzischen Feldzug. Mit Leuten, die der Mehrzahl nach kaum 14 Tage bis 3 Wochen eingestellt, die, ganz rohe Rekruten, von improvisierten Offizieren und Unteroffizieren kaum notdürftig eingeübt waren und die von Disziplin kaum eine Spur besaßen, machte Becker als Nachhut der geschlagenen und halb aufgelösten Armeen in 48 Stunden einen Marsch von über 80 Kilometern oder 11 deutschen Meilen, der gleich mit einem Nachtmarsch begann, und brachte sie mitten durch den Feind nach Durlach in einer Verfassung, daß sie am nächsten Morgen den Preußen eines der wenigen Gefechte des Feldzugs liefern konnten, in denen der Gefechtszweck auf seiten der Revolutionsarmee vollständig erreicht wurde. Es ist das eine Leistung, die alten Truppen Ehre machen würde und die bei so jungen Soldaten im höchsten Grade selten und ehrenvoll ist.
An der Murg angekommen, kam Becker mit seiner Division östlich von Rastatt zu stehen und nahm ehrenvollen Anteil an den Kämpfen des 29. und 30. Juni. Das Resultat ist bekannt; der sechsfach zahlreichere Feind umging die Stellung durch württembergisches Gebiet und rollte sie dann vom rechten Flügel an auf. Der Feldzug war nun auch formell entschieden und endigte notgedrungen mit dem Übertritt der revolutionären Armee auf Schweizer Gebiet.
Bis dahin war Becker vorzugsweise als einfacher demokratischer Republikaner aufgetreten; aber von nun an geht er einen bedeutenden Schritt weiter. Die nähere Bekanntschaft mit den deutschen „reinen Republikanern“, und namentlich mit den süddeutschen, und seine Erfahrungen in der 1849er Revolution bewiesen ihm, daß die Sache in Zukunft anders angefaßt werden müsse. Die starken Sympathien für das Proletariat, die Becker von Jugend an hegte, nahmen nun eine festere Gestalt an; es war ihm klar geworden, daß, wenn die Bourgeoisie überall den Kern der reaktionären Parteien bildete, so nur das Proletariat den Kern einer wirklich revolutionären Macht bilden könne. Der Gefühlskommunist wurde bewußter Kommunist.

Noch einmal versuchte er die Bildung einer Freischar; es war 1860, nach dem siegreichen Zug Garibaldis nach Sizilien. Er ging von Genf nach Genua, um im Einverständnis mit Garibaldi die Vorbereitungen zu treffen. Aber die raschen Fortschritte Garibaldis und die Einmischung der italienischen Armee, die die Früchte des Sieges für die Monarchie einheimsen sollte, brachten den Feldzug zum Abschluß. Indes erwartete man allgemein einen neuen Krieg mit Österreich im nächsten Jahr. Es ist bekannt, wie Rußland Louis-Napoleon und Italien benutzen wollte, um die 1859 unvollendet gebliebene russische Rache an Österreich zu vervollständigen. Die italienische Regierung schickte einen hohen Generalstabsoffizier zu Becker nach Genua und trug ihm den Oberstenrang in der italienischen Armee, glänzendes Gehalt und Diäten, und das Kommando über eine von ihm zu bildende Legion im erwarteten Kriege an, falls er in Deutschland Propaganda für Italien gegen Österreich machen wollte. Aber der Proletarier Becker schlug rund ab; mit Fürstendienst wollte er nichts zu tun haben.
Das war sein letzter Versuch als Freischärler. Bald darauf wurde die Internationale Arbeiter-Assoziation gegründet, und einer ihrer Gründer war Becker; er war gegenwärtig auf dem berühmten Meeting in St. Martin’s Hall, von dem die Internationale datiert. Er organisierte die deutschen und eingebornen Arbeiter der romanischen Schweiz, gründete als Organ dieser Gruppe den „Vorboten“, war auf allen Kongressen der Internationale gegenwärtig und stand im Vordertreffen des Kampfes gegen die bakunistischen Anarchisten der Alliance de la Démocratie socialiste und des Schweizer Jura.
Nach dem Zerfall der Internationale bot sich Becker weniger Gelegenheit, öffentlich hervorzutreten. Aber er blieb dennoch stets mitten in der Arbeiterbewegung und übte durch seine ausgedehnte Korrespondenz und die häufigen Besuche, die ihm in Genf wurden, fortwährend seinen Einfluß auf ihren Gang aus. 1882 sah er Marx auf einen Tag bei sich, und noch im September dieses Jahres unternahm der Siebenundsiebzigjährige eine Reise durch die Pfalz und Belgien nach London und Paris, auf der ich die Freude hatte, ihn vierzehn Tage bei mir zu haben und über alte und neue Zeiten mit ihm zu sprechen. Und kaum zwei Monate später meldet der Telegraph seinen Tod!
Becker war ein seltener Mann. Ein einziges Wort bezeichnet ihn ganz – das Wort: kerngesund; an Körper und an Geist war er kerngesund bis zuletzt. Ein Hüne von Gestalt, von riesiger Körperkraft, dabei ein schöner Mann, hatte er seinen ungelehrten, aber keineswegs ungebildeten Geist, dank glücklicher Anlage und gesunder Tätigkeit, ebenso harmonisch entwickelt wie seinen Körper. Er war einer von den wenigen Menschen, die nur ihrer eigenen instinktiven Natur zu folgen brauchen, um richtig zu gehen. Daher wurde es ihm auch so leicht, mit jeder Entwicklung der revolutionären Bewegung Schritt zu halten und im achtundsiebzigsten Jahre noch ebenso frisch in der ersten Reihe zu stehen wie im achtzehnten. Der Knabe, der 1814 schon mit den durchziehenden Kosaken gespielt und 1820 Sand, den Erdolcher Kotzebues, hatte hinrichten sehen, entwickelte sich vom unbestimmten Oppositionsmann der zwanziger Jahre immer weiter und stand noch 1886 vollständig auf der Höhe der Bewegung. Dabei war er kein finsterer Gesinnungslümmel wie die meisten „ernschten“ Republikaner von 1848, sondern ein echter Sohn der heitern Pfalz, lebenslustig, liebte Wein, Weib und Gesang trotz dem Besten. Erwachsen auf dem Boden des „Nibelungenliedes“, um Worms, sah er noch auf seine alten Tage aus wie eine der Gestalten aus unserem alten Heldengedicht: heiter und spottvoll, den Gegner anrufend zwischen den Schwerteshieben, Volkslieder dichtend, wenn es nichts zu schlagen gab – so und nicht anders muß er ausgesehen haben, Volker der Fiedeler!
Seine bedeutendste Befähigung war aber unbedingt seine militärische. In Baden hat er entschieden mehr geleistet als irgendein anderer. Während die übrigen Offiziere, in der Schule stehender Heere erzogen, hier einen wildfremden, für sie fast unlenkbaren Soldatenstoff vorfanden, hatte Becker seine ganze Organisationskunst, Taktik und Strategie in der hanebüchenen Schule der Schweizer Miliz gelernt. Ein Volksheer war ihm nichts Fremdes, seine notwendigen Mängel nichts Ungewohntes. Wo die anderen verzagten oder sich erbosten, blieb Becker ruhig und fand einen Ausweg über den andern, wußte seine Leute richtig zu behandeln, belebte sie wieder mit einem Witzwort und behielt sie schließlich in der Hand. Um den Marsch von Heidelberg nach Durlach mit einer Division von fast lauter ungeübten Rekruten, die aber dennoch fähig blieben, sofort ein gut unterhaltenes Gefecht aufzunehmen, kann ihn mancher preußische General von 1870 beneiden. Und in demselben Gefecht brachte er die ihm zugeteilten Pfälzer, mit denen niemand etwas machen gekonnt, ins Gefecht und sogar zum Angriff auf freiem Feld. In Becker haben wir den einzigen deutschen Revolutionsgeneral verloren, den wir hatten.
Das war der Mann, der an den Freiheitskämpfen von drei Generationen ehrenvoll teilgenommen.
Die Arbeiter aber werden sein Andenken treu bewahren als das eines ihrer Besten!
London, 9. Dezember 1886
Friedrich Engels