Kaiser Wilhelm II über Erziehung in der Schule

Kaiser Wilhelm II (in: Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878)

Aus den Erfahrungen meiner eigenen Schuljahre kannte ich die Schattenseiten der Gymnasialerziehung. Der vorwiegend philologische Charakter der Ausbildung führte auch in der ganzen Erziehung zu einer gewissen Einseitigkeit. Ich hatte von 1874 bis 77 auf dem Gymnasium in Cassel beobachten können, daß zwar eine große Begeisterung für 1870/71 und für das neue Reich unter der Jugend vorhanden war, daß aber das richtige Verständnis für das Deutschtum, das Gefühl „civis Germanus sum“ – wie ich es später bei der Grundsteinlegung der Saalburg meinem Volke ins Gewissen rief – noch vielfach fehlte.

Solche Gesinnung zu schaffen und in der heranwachsenden Generation wach zu rufen, die Fundamente dazu fest in die jungen Herzen zu legen, dazu war die Lehrerschaft bei dem etwas verknöcherten, antik-philologischen Lehrplan kaum imstande. Der vaterländische Geschichtsunterricht, der ja gerade die jungen Herzen erglühen und die Liebe zur Heimat, zu deren Zukunft und Größe erstarken lassen soll, war stark vernachlässigt.

Von der neueren Geschichte seit 1815 erfuhr man nur wenig. Es wurden junge Philologen ausgebildet, aber keine für praktische Mitarbeit am aufblühenden jungen Reich geeigneten deutschen Staatsbürger; mit anderen Worten: keine selbstbewußten Deutschen. In einem kleinen Lesezirkel mit meinen Klassengenossen habe ich des öfteren versucht, den großdeutschen Gedanken zu behandeln, um partikularistische und andere die deutsche Idee hindernde Gedanken zu eliminieren. Admiral Werners „Buch der deutschen Flotte“ war eines der wenigen Werke, mit dem das lebendige Empfinden für das Deutsche Reich entflammt werden konnte. Neben der Einseitigkeit der Schulbildung fiel mir besonders die Richtung auf, in der sich die Lebenspläne der damaligen Jugend bewegten.

Es waltete vorherrschend die Überlegung, wie man als Beamter Karriere machen wollte, wobei der Jurist und Assessor immer als das erstrebenswerteste Ziel galten. Das rührte wohl daher, daß die Verhältnisse des alten Preußens im jungen Deutschen Reiche noch nachwirkten. Solange der Staat sozusagen aus Regierung und Verwaltung bestand, war jene Lebensrichtung der deutschen Jugend verständlich und berechtigt; sie war, als wir im Beamtenstaat lebten, für einen jungen Mann der gegebene Weg, dem Staate zu dienen.

Die selbstbewußten, sportlich erstarkten britischen Jungens, wie ich sie in Eton kennen gelernt hatte, sprachen freilich schon damals von kolonialen Eroberungen, von Expeditionen zur Erforschung neuer Länder der Erde, von der Ausbreitung des britischen Handels und strebten danach, als Pioniere der Macht ihres Vaterlandes in praktischer freier Betätigung, nicht als staatlich Besoldete, Great Britain noch stärker und größer zu machen. England war eben längst ein Weltreich, als wir noch ein Beamten-staat waren; deshalb konnte sich die englische Jugend weitere und größere Ziele stecken als die deutsche. Nachdem nun aber Deutschland auch in die Weltwirtschaft und in die Weltpolitik als nicht zu unterschätzender Faktor eingetreten war, hätte sich die Gedankenwelt der deutschen Jugend schneller umstellen sollen.

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