Das Lamm und der Wolf

Ein Lämmlein trank vom Frischen
An einem kühlen Bach
Da kam aus den Gebüschen
Ein Wolf und schlich ihm nach

Gleich sprach er zu dem Lamme
Was Hab ich dir getan
Der Bach ist trüb vom Schlamme
Daß ich nicht saufen kann

Das Lamm gab gute Worte
Und sprach du treibst nur Scherz
Fließt nicht von deinem Orte
Der Strom herunterwärts

Der Wolf ward überwiesen
Doch fing er wieder an
Dein Vater hat vor diesem
Mir Unrecht angetan

Ich ward vergangnen Winter
An Ehren angetast´t
Doch kam ich bald dahinter
Daß du gelogen hast

Im Winter war´s verbrochen
ei Wolf wo denkst du hin
es sind ja erst vier Wochen
daß ich geboren bin

So deutlich überführte
Den Wolf des Lamms Bericht
Doch alles dieses rührte
Des Mörders Herze nicht

Er sprach mit starker Stimme
und sprach: Du hasts getan
Und finq darauf im Grimme
Das Lamm zu fressen an

Es treiben grosse Herren
Gar oft dergleichen Spiel
Die Unschuld mag sich sperren
So viel sie kann und will

Die Frommen gelten wenig
Die Armen leiden Not
Den Weinberg nahm der König
Und Naboth schlug man tot

Text: Miehl ? von dem Verfasser der Grasmücke (1784)
in Als der Großvater die Großmutter nahm (1885) – Volkstümliche Lieder der Deutschen (1895)

Anmerkungen zu "Das Lamm und der Wolf"

Gedicht aus dem Ende des 18 Jahrhunderts, angeblich von Miehl, 1784. In Jugendschriften viel gedruckt und bis 1840 gesungen. Nach 1880 vielfach im Elsaß gehört und daher auch gedruckt bei Mündel, Elsässische Volkslieder Nr 258. In Kinderbüchern bleibt mit Recht die moralisierende Schlußstrophe weg. (Böhme, in Volkstümliche Lieder der Deutschen, 1895)

„Über Entstehungszeit und Verfasser ist nichts Näheres bekannt. Das Lied war, besonders in der Schweiz , verbreitet. Bächtold nennt es unter den Lieblingsliedern Gottfried Keller s , „die er, wenn´s fröhlich herging, mit wohllautender Stimme sang“ (in Als der Großvater die Großmutter nahm, 1885)